Der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten…

Initiations-Erkenntnis

Die geistige und physische Welt- und Menschheitsentwickelung in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vom Gesichtspunkt der Anthroposophie
GA 227, Seiten 85-86
Zu diesen schwierigsten Dingen sind ohne Zweifel zu rechnen die mathematischen Wahrheiten. Dasjenige, was in der Mathematik erkannt wird, das hält man für etwas absolut Richtiges. Nun ist das Eigentümliche, daß selbst die Mathematik, die Geometrie aufhört, richtig zu sein, wenn man in die geistigen Welten hineinkommt. Da handelt es sich darum – ich möchte das an einem ganz einfachen Beispiel klarmachen -, daß man ja die alte Euklidische Wahrheit als ein Axiom, wie man es nennt, als eine Selbstverständlichkeit kennenlernt, sich von Jugend auf daran gewöhnt. Es wird zum Beispiel als eine Selbstverständlichkeit hingestellt: Wenn ich einen Punkt A habe und einen Punkt B, so ist der kürzeste Weg zwischen diesen zwei Punkten die gerade Linie. Jeder andere Weg, jeder krumme Weg ist länger. Auf dieser Erkenntnis, die selbstverständlich ist für die physische Welt, beruht ein großer Teil unserer Geometrie. In den geistigen Welten ist es umgekehrt. Da ist die gerade Linie, die man von A nach B nimmt, der längste Weg. Jeder andere Weg ist kürzer, weil jeder andere in der geistigen Welt frei gegangen werden kann. Hat man die Vorstellung, wenn man in A ist, daß man nach B kommen soll, so kommt man durch diese bloße Vorstellung auf jedem krummen Wege leicht hin; aber den geraden Weg einzuhalten, also in jedem einzelnen Punkte der Geraden einzuhalten diese einzige Richtung, das ist das Schwerste, das verlangsamt am allermeisten. Daher braucht man am allerlängsten, wenn man in der geistigen Welt eine Gerade durchmessen will im zweidimensionalen oder im eindimensionalen Raum. Derjenige, der etwas nachdenkt über die Aufmerksamkeit und, wie ich oft jetzt sagte, in die Seele tief hineinschürft, was eigentlich die Aufmerksamkeit bedeutet, der kommt darauf, daß das, was der Geistesforscher aus seiner Erfahrung heraus sagt, auch in dieser Beziehung richtig sein müsse. Denn er sagt sich: Wenn ich beliebig herumlaufe, da durchmesse ich meinen Weg leicht -, und dieses Herumlaufen braucht sich nicht bloß zu beziehen auf ein wirkliches Ablaufen von Strecken, sondern auf das, was man täglich tut; die meisten Menschen hantieren ja vom Morgen bis zum Abend. Sie hantieren so, daß sie eigentlich wenig aufmerksam sind, daß sie mehr das tun, was in der Gewohnheit liegt, was sie gestern getan haben, was die Leute sagen, daß man tun soll und so weiter. Da geht die Arbeit schnell vonstatten. Aber bedenken Sie, wenn Sie bei jedem einzelnen Punkte Ihres Tagesdaseins intensiv aufmerksam sein müssen auf dasjenige, was Sie tun, probieren Sie es einmal, Sie werden schon sehen, wieviel langsamer das zustande kommt. Nun, in der geistigen Welt gibt es überhaupt nichts ohne Aufmerksamkeit. In der geistigen Welt gibt es keine Gewohnheit. In der geistigen Welt gibt es das Wörtchen «man» nicht, man muß zu dieser Zeit lunchen, man muß zu dieser Zeit dinieren und so weiter. Dieses «man», man zieht sich bei dieser Gelegenheit diese oder jene Kleider an und so weiter, das alles, was unter dem Wörtchen «man» eine so große Rolle spielt in der physischen Welt, besonders in der heutigen Zivilisation, das alles gibt es nicht in der geistigen Welt. In der geistigen Welt muß jeder kleinste Schritt, ja, was noch kleiner ist als ein Schritt, mit der eigenen Aufmerksamkeit verfolgt werden. Das drückt sich schon aus, wenn man den Satz ausspricht: In der geistigen Welt ist die Gerade der längste Weg zwischen zwei Punkten. So hat man den Gegensatz: In der physischen Welt ist die Gerade der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten. In der geistigen Welt ist die Gerade der längste Weg zwischen zwei Punkten. Geht man nur tief genug in die Seele hinein, so wird man aufmerksam darauf, wie man ein wirkliches Verständnis für diese Sonderbarkeiten aus der Seele herausholen kann, und man wird dann immer mehr und mehr zu dem Selbstgeständnis kommen: Was der Geistesforscher sagt, das ist eigentlich alles eine Weisheit, die in mir selbst sitzt. Ich brauche nur daran erinnert zu werden.