Der M.[Meister]
Rudolf Steiners ‚Meister‘
Rudolf Steiner / Marie Steiner-von Sivers
Briefwechsel und Dokumente 1901 – 1925
GA 262
Seite 86
Ich kann Dir nur sagen, wenn der Meister mich nicht zu überzeugen gewusst hätte, dass trotz alledem die Theosophie unserem Zeitalter notwendig ist: ich hätte auch nach 1901 nur philosophische Bücher geschrieben und literarisch und philosophisch gesprochen.
Seite 16
Nicht sogleich begegnete ich dem M., sondern zuerst einem von ihm Gesandten, der in die Geheimnisse der Wirksamkeit aller Pflanzen und ihres Zusammenhanges mit dem Kosmos und mit der menschlichen Natur vollkommen eingeweiht war. Ihm war der Umgang mit den Geistern der Natur etwas Selbstverständliches, das ohne Enthusiasmus vorgebracht wurde, doch um so mehr Enthusiasmus erweckte.
Seite 22
Da kam die Zeit, wo ich im Einklänge mit den okkulten Kräften, die hinter mir standen, mir sagen durfte: du hast philosophisch die Grundlegung der Weltanschauung gegeben, du hast für die Zeitströmungen ein Verständnis erwiesen, indem du so diese behandelt hast, wie nur ein völliger Bekenner sie behandeln konnte; niemand wird sagen können: dieser Okkultist spricht von der geistigen Welt, weil er die philosophischen und naturwissenschaftlichen Errungenschaften der Zeit nicht kennt. Ich hatte nun auch das vierzigste Jahr erreicht, vor dessen Eintritt im Sinne der Meister niemand öffentlich als Lehrer des Okkultismus auftreten darf. (Überall, wo jemand früher lehrt, liegt ein Irrtum vor.) Nun konnte ich mich der Theosophie öffentlich widmen.
Seite 28
Im Alter von fünfzehn [achtzehn] Jahren machte Rudolf Steiner die Bekanntschaft eines wissenden Pflanzenkenners, der sich vorübergehend in seiner Gegend aufhielt. Das Besondere an diesem Menschen war, dass er nicht nur die Arten, die Familien und das Leben der Pflanzen bis in die kleinsten Einzelheiten kannte, sondern auch ihre geheimen Eigenschaften. Es war, wie wenn er sein ganzes Leben im Gespräch mit der bewusstlosen und flüchtigen Seele der Pflanzen und Blumen verbracht hätte. Er besaß die Gabe, das lebendige Prinzip der Pflanzen, den Ätherleib, und das, was im Okkultismus die Elementarwesen des Pflanzenreiches genannt wird, zu sehen. Er sprach davon wie von einer ganz gewöhnlichen und selbstverständlichen Sache. Der gelassene und nüchtern wissenschaftliche Ton seiner Unterhaltung vermehrte nur die Wissbegierde und die Bewunderung des Jünglings. Später erfuhr er, dass dieser sonderbare Mann ein Abgesandter des Meisters war, den er noch nicht kannte, der aber sein eigentlicher Initiator werden sollte und welcher ihn schon aus der Ferne überwachte.
Seite 30
Mit neunzehn Jahren begegnete der junge Neophyte seinem Führer – dem Meister -; eine Begegnung, die er seit langem vorausgeahnt hatte. Es ist eine durch die okkulte Tradition und die Erfahrung bestätigte Tatsache, dass diejenigen, die von einer uneigennützigen Sehnsucht nach der höheren Wahrheit beseelt sind, einen Meister finden, der sie im geeigneten Moment, das heißt wenn sie reif dafür sind, einweiht. «Klopfet an und es wird euch aufgetan», sagt Jesus. Dies ist für alle Dinge richtig, besonders aber für die Wahrheit.
Seiten 30-32
Rudolf Steiners Meister war einer von diesen mächtigen Menschen, die der Welt unbekannt unter der Maske irgendeines bürgerlichen Berufes leben, um eine Mission zu erfüllen, die nur die Gleichgestellten in der Brüderschaft der «Meister des Verzichts» kennen. Sie üben keine sichtbare Wirkung aus auf die menschlichen Ereignisse. Das Inkognito ist die Bedingung ihrer Wirksamkeit, die dadurch eine umso größere Kraft gewinnt. Denn sie erwecken, bereiten vor und leiten solche, die vor aller Augen handeln. Bei Rudolf Steiner war es für den Meister nicht schwer, die erste, spontane Einweihung seines Schülers zu vervollständigen. Er brauchte ihm eigentlich nur zu zeigen, wie er sich seiner eigenen Natur zu bedienen habe, um ihm alles Erforderliche an die Hand zu geben. In lichtvoller Weise zeigte er ihm die Verbindung zwischen den äußeren und den geheimen Wissenschaften, den Religionen und den geistigen Kräften, welche sich gegenwärtig die Führung der Menschheit streitig machen, sowie das Alter der okkulten Tradition, welche die Fäden der Geschichte in der Hand hält, sie verknüpft, auftrennt und im Laufe der Jahrhunderte wieder zusammenknüpft. Rasch ließ er ihn durch die verschiedenen Etappen der inneren Disziplin hindurchgehen, um das bewusste und vernunftgetragene Hellsehens zu erreichen. In wenigen Monaten war der Schüler durch mündlichen Unterricht mit der unvergleichlichen Tiefe und Schönheit der esoterischen Zusammenschau bekannt geworden. Rudolf Steiner hatte sich schon seine geistige Mission vorgezeichnet: «Die Wissenschaft mit der Religion zu verbinden, Gott in die Wissenschaft und die Natur in die Religion hineinzubringen und dadurch von neuem Kunst und Leben zu befruchten.» Wie aber diese ungeheure und kühne Aufgabe angreifen? Wie sollte er den großen Feind, die einem ungeheuren gepanzerten und über einen großen Schatz gelagerten Drachen vergleichbare moderne materialistische Wissenschaft, besiegen oder vielmehr zähmen und bekehren? Wie kann es gelingen, den Drachen der modernen Wissenschaft zu bändigen um ihn vor den Wagen der geistigen Wahrheit zu spannen? Vor allem, wie ist der Stier der öffentlichen Meinung zu besiegen? Der Meister Rudolf Steiners glich diesem kaum. Er hatte nichts von dieser tiefen, fast weiblichen Feinfühligkeit, die zwar die Energie nicht ausschließt, aber aus jeder Berührung ein Gefühlserlebnis macht und die das Leiden des anderen sogleich in einen persönlichen Schmerz verwandelt. Er war ein männlicher Geist, eine Herrschernatur, welche nur auf die Gattung schaute und für welche die Individuen kaum eine Bedeutung hatte. Er schonte sich selbst nicht, so wenig wie die anderen. Sein Wille war einer Kanonenkugel vergleichbar, welche, nachdem sie einmal den Lauf verlassen hat, direkt ihrem Ziel zuschießt und alles auf ihrem Wege mit sich reißt. Auf die besorgten Fragen seines Schülers antwortete er ungefähr in diesem Sinne: «Wenn du den Feind bekämpfen willst, musst du ihn zuerst verstehen. Den Drachen kannst du nur besiegen, wenn du seine Haut anziehst. Den Stier muss man bei den Hörnern nehmen. Im größten Missgeschick wirst du deine Waffen und deine Kampfgenossen finden. Ich habe dir gezeigt, wer du bist; jetzt gehe – und bleibe du selbst!»2 Rudolf Steiner kannte die Sprache der Meister genügend, um den schweren Weg vorauszufühlen, welchen dieser Befehl ihm auferlegte; er begriff jedoch auch, dass es das einzige Mittel war, um zum Ziele zu gelangen. Er gehorchte und machte sich auf den Weg.