Geisteswissenschaft
Das Geistige ist zunächst für die äußere Wahrnehmung, für das, was der äußere Mensch erkennen und tun kann, überall gewissermaßen verborgen, verhüllt. Das ist das Charakteristische des Geisti- gen, daß der Mensch es erst erkennen kann, wenn er sich bemüht, wenigstens im geringen Maße, anders zu werden, als er von vornherein ist. Wir arbeiten in unseren geisteswissenschaftlichen Vereinigungen miteinander. Ja, wir hören da nicht nur diese oder jene Wahrheiten, die uns etwa sagen: Es gibt verschiedene Welten, der Mensch besteht aus verschiedenen Gliedern oder Leibern, oder wie man es nennen will —, sondern indem wir das alles auf uns wirken lassen, auch wenn wir es nicht immer bemerken, wird nach und nach, auch ohne daß wir eine esoterische Entwickelung durchmachen, unsere Seele zu etwas anderem. Das, was wir lernen auf dem Boden der Geisteswissenschaft, macht unsere Seele zu etwas anderem, als sie vorher war. Vergleichen Sie einmal die Art, wie Sie fühlen können, nachdem Sie einige Jahre das spirituelle Leben in einer Arbeitsgruppe für Geisteswissenschaft mitgemacht haben; vergleichen Sie die Art und Weise, wie Sie fühlen, wie Sie denken, dann mit der Art und Weise, wie Sie vorher gefühlt und gedacht haben oder wie die nicht für Geisteswissenschaft interessierten Menschen fühlen und denken: Geisteswissenschaft bedeutet nicht bloß die Aneignung eines Wissens, Geisteswissenschaft bedeutet eine Erziehung im eminentesten Maße, eine Selbsterziehung unserer Seele. Wir machen uns zu etwas anderem, die Interessen werden andere, die Aufmerksamkeiten, die der Mensch für das oder jenes entwickelt nach einigen Jahren, wenn er in die Geisteswissenschaft eingedrungen ist, sie werden anders. Was ihn früher interessiert hat, interessiert ihn nicht mehr; was ihn früher nicht interessiert hat, beginnt ihn im höchsten Maße zu interessieren. Man darf nicht bloß sagen: Derjenige erst erhält ein Verhältnis zur geistigen Welt, welcher eine esoterische Entwickelung durchgemacht hat. — Die Esoterik beginnt nicht erst mit der okkulten Entwickelung. In dem Augenblicke, wo wir uns mit irgendeiner geisteswissenschaftlichen Vereinigung verbinden und mit unserem ganzen Herzen dabei sind und fühlen, was in den Lehren der Geisteswissenschaft liegt, da beginnt schon die Esoterik, da beginnt schon unsere Seele sich umzuwandeln, da beginnt schon mit uns etwas Ähnliches, wie etwa vorgehen würde, sagen wir, mit einem Wesen, das vorher nur gesehen hätte Hell und Dunkel und das dann durch eine besondere, andere Organisation der Augen anfangen würde, Farben zu sehen: die ganze Welt würde anders aussehen für ein solches Wesen. Wir brauchen es nur zu bemerken, wir brauchen es uns nur zu gestehen, dann werden wir finden: die ganze Welt beginnt anders auszusehen, wenn wir die spirituelle Selbsterziehung eine Weile durchmachen, die wir haben können in einer geisteswissenschaftlichen Vereinigung. Dieses Sich-Erziehen zu einer ganz bestimmten Empfindung gegenüber der geistigen Welt, dieses Sich-Erziehen zu einem Hinblicken auf etwas, was hinter den physischen Tatsachen steht, das ist eine Frucht der geisteswissenschaftlichen Bewegung in der Welt, und das ist das Wichtigste am spirituellen Verständnis.
Rudolf Steiner, GA 136 – Seite 18