Christentum & Anthroposophie

Man kann nicht sagen, daß die Anthroposophie Christentum ist; sondern man muß sagen: Dasjenige, was durch das Christus-Prinzip der Erde, dem Menschen gegeben worden ist, wird durch das Instrument der Anthroposophie allmählich begriffen werden.

Nun müssen wir uns klar darüber sein: wenn so alles in den späteren Religionssystemen Erinnerung früherer Erdenvorgänge ist, so mußte gerade in jenem Zeitpunkt, wo die letzte der Erinnerungen auftauchen konnte, ein wichtiges Ereignis eintreten. Und das war ungefähr die Zeit, wo das griechische und das römische Volk sich an die atlantischen Zeiten erinnerten. Das war aber auch die Zeit, in der der Christus einen wesentlichen, einen neuen Einschlag in die Erdentwickelung hineingebracht hat. Was für ein Einschlag das war, haben wir ja schon heute berührt, indem wir sagten, daß nach der langen Zwischenzeit, in der die luziferischen Wesenheiten den Menschen zubereitet haben, ihn fähig gemacht haben, den ersten Impuls zu empfangen, daß da die Sonne ihn nicht nur äußerlich bestrahlte, sondern auch ihre inneren Kräfte auf den Menschen wirkten. Diese Zeit ist noch lange nicht zum Abschluß gebracht, sie ist erst in ihrem Anfange, denn erst mit der Erscheinung des Christus ist der erste Impuls gegeben, daß das, was sonst bei der Sonne physisch-leiblich herunterscheint auf die Erde, auch innerlich-geistig ausstrahlt. Und immer größer wird das Licht werden, das als Sonnenlicht, als Geisteslicht, als Christus-Licht den Menschen von innen durchstrahlen wird, so wie das äußere Sonnenlicht ihn von außen umstrahlt. Das wird des Menschen Zukunft sein, daß er die Sonne nicht nur mit äußeren Augen anschauen und ihre Herrlichkeit empfinden wird, sondern daß er in seinem Inneren auch den geistigen Sinn der Sonne wird aufleben lassen. Wenn er dazu imstande sein wird, dann wird er erst voll verstehen, was eigentlich in der Gestalt, die wir als den Christus Jesus bezeichnen, auf Erden gewandelt ist. Das wird erst langsam und allmählich von dem Menschen verstanden werden können. Und ebenso wahr, als es ist, daß er in der vorchristlichen Zeit die ankündigenden geistigen Wesen begreifen mußte, die den Menschen sozusagen entlassen haben in die physische Welt hinunter, ebenso wahr ist es, daß der Mensch nunmehr begreifen muß durch eine wirklich spirituelle Bewegung jene geistige Kraft, die damals mit der Sonne aus der Erde herausgegangen ist. Der Mensch muß sie als eine innerliche geistige Kraft wieder in Empfang nehmen können; er muß diese geistige Kraft, die ihm die großen Impulse in die Zukunft hinein gibt, er muß diese Christus-Kraft begreifen. Und um diese Christus-Kraft zu begreifen, dazu gehört alle spirituelle Wissenschaft, dazu gehört als Geistsame alles, was aufgebracht werden kann an geistigen Lehren. Man kann nicht sagen, daß die Anthroposophie Christentum ist; sondern man muß sagen: Dasjenige, was durch das Christus-Prinzip der Erde, dem Menschen gegeben worden ist, wird durch das Instrument der Anthroposophie allmählich begriffen werden. Dadurch aber, daß es begriffen wird, wird es immer mehr der Geistsame werden, wird immer mehr jener große Impuls in die Erdentwickelung hineingegeben werden. Denn der Mensch braucht es, nachdem er am tiefsten hinabgestiegen ist in die Materie, um sich ihr wieder zu entreißen, um wieder zurückzukehren in seine geistige Heimat.

Welt, Erde und Mensch (Stuttgart, 1908)

GA 105 – Seite 125