Die Krisis der Gegenwart und der Weg zu gesundem Denken

Zehn öffentliche Vorträge, gehalten in Stuttgart zwischen
2. März und 10. November 1920

Die Krisis der Gegenwart und der Weg zu gesundem Denken – GA 335

Wir leben in der Zeit des Theoretisierens. Und wenn von jemandem dasjenige geltend gemacht wird, was nur aus Wirklichkeitssinn stammt, und dieses so Geltendgemachte dann in Ideen gefaßt wird, dann verwechseln die Menschen das, was aus der Wirklichkeit herausgeholt ist und klar in Ideenform auftritt, mit dem, was in ihnen selbst als abstrakte, als unwirklichkeitsgemäße Ideen lebt. Und sie sehen dann das, was eigentlich wirken kann im Menschen als ein realer Impuls, an als irgend etwas Utopistisches oder dergleichen – diejenigen Menschen am meisten, die selbst nur Utopistisches in den Köpfen haben, die sehen dann so etwas als Utopie an. Was war die Idee dieses Strebens nach einer universellen Menschheitserziehung im Sinne der «Philosophie der Freiheit»? Es war dies die Idee, daß frei der Mensch niemals werden könne, wenn er in sein Bewußtsein nur aufnimmt diejenigen Vorstellungen, die ihm seit drei bis vier Jahrhunderten aus der naturwissenschaftlichen Weltanschauung heraus kommen, wenn er sich nur anfüllt mit dem, was man von der Natur lernen kann. Nun, meine sehr verehrten Anwesenden, ich habe öfter auch schon hier gesagt, daß der Einwand gemacht wird: Ja aber, wieviele Menschen sind es denn, welche heute in ihr ganzes Bewußtsein aufnehmen diejenigen Vorstellungen, die aus der Betrachtung der Natur entlehnt sind? Es sei ja so, meinen die Menschen, daß nur einzelne Persönlichkeiten Naturwissenschaft lernen und daß dann vielleicht auch aus denen, die da von Naturwissenschaft etwas erfahren, sich andere rekrutieren, welche eine monistische – oder wie man es sonst nennt Weltanschauung begründen, daß das aber doch auf die ganze breite Masse der Menschheit heute noch keinen maßgebenden Einfluß habe.