Von Jesus zu Christus

GA 131 – Seite 71-74

Wir stehen da an der bedeutungsvollen Begegnung mit dem Hüter der Schwelle. Kommen wir aber so weit, erleben wir das, was eben jetzt gesagt worden ist, durch die Strenge unserer Exerzitien, dann kommen wir aus der allgemeinen menschlichen Natur heraus dazu, daß wir uns selbst erkennen, wie wir jetzt als das Resultat der vorhergehenden Inkarnationen zu der gegenwärtigen Gestalt geworden sind. Aber wir erkennen auch, wie wir den tiefsten Schmerz empfinden können und uns über diesen Schmerz emporarbeiten müssen zur Überwindung unseres gegenwärtigen Daseins. Und für jeden, der nur genügend weit fortgeschritten ist und die Empfindungen in ihrer ganzen Intensität durchgemacht hat, der geschaut hat den Hüter der Schwelle, taucht dann mit Notwendigkeit ein Imaginationsbild auf — ein Bild, das er sich nicht durch Willkür hinmalt, wie es im Jesuitismus geschieht, durch das, was in der Bibel steht, sondern das er erlebt durch das, was er allgemein menschlich gefühlt hat, was er ist. Dadurch wird er ja selbstverständlich bekannt gemacht mit dem Bilde des göttlichen Idealmenschen, der in einem physischen Leibe uns selbst gleich lebt, aber in diesem physischen Leibe uns selbst gleich auch empfindet alles das, was ein physischer Leib bewirken kann. Die Versuchung und das Bild, das uns in den synoptischen Evangelien geschildert wird von der Versuchung, dem Hinführen des Christus Jesus zu dem Berge, von dem Versprechen aller äußeren Realitäten, dem Festhaltenwollen an den äußeren Realitäten, die Versuchung, an der Materie hängen zu bleiben, kurz, die Versuchung, beim Hüter der Schwelle zu bleiben und nicht über ihn hinauszuschreiten, das erscheint uns in dem großen Idealbilde des Christus Jesus auf dem Berge stehend und den Versucher neben ihm — das sich uns entgegenstellen würde, selbst wenn wir nie etwas von den Evangelien gehört hätten. Und wir wissen dann, daß der, welcher die Versuchungsgeschichte geschrieben hat, seine eigene Erfahrung geschildert hat, daß er gesehen hat im Geiste den Christus Jesus und den Versucher. Da wissen wir, daß es wahr ist, im Geiste wahr ist, daß der, der die Evangelien geschrieben hat, etwas geschildert hat, was wir selbst erleben können, auch wenn wir gar nichts von den Evangelien wüßten. So werden wir zu einem Bilde hingeführt, das gleich ist dem, was in den Evangelien als Bild ist. Da erobern wir uns das, was in den Evangelien steht. Da wird nichts überwältigt, sondern aus den Tiefen unserer Natur hervorgeholt. Wir gehen von allgemein Menschlichem aus und gebären durch unser okkultes Leben die Evangelien neu und fühlen uns eins mit den Evangelienschreibern. Dann geht in uns eine andere Empfindung auf, eine Art nächster Stufe des okkulten Weges. Wir fühlen, wie der Versucher, der da aufgetreten ist, sich auswächst zu einem mächtigen Wesen, das hinter allen Erscheinungen der Welt ist. Ja, wir lernen zwar den Versucher kennen, aber wir lernen ihn doch nach und nach in einer gewissen Weise schätzen. Wir lernen sagen: Die Welt, die sich vor uns ausbreitet, mag sie nun Maja sein oder etwas anderes, sie hat ihre Berechtigung; sie hat uns etwas zur Offenbarung gebracht. — Da tritt etwas Zweites auf, das wieder als ein ganz konkretes Gefühl geschildert werden kann bei jedem, der die Bedingungen einer rosenkreuzerischen Initiation erfüllt. Das Gefühl tritt auf: Wir gehören dem Geiste an, der in allen Dingen lebt, und mit dem wir rechnen müssen. Wir können gar nicht hinter den Geist kommen, wenn wir uns nicht dem Geiste hingeben. Und da wird uns angst! Wir machen eine Angst durch, die jeder wirkliche Erkenner durchmachen muß, ein Empfinden der Größe des in der Welt ausgebreiteten Welten- geistes. Sie steht vor uns, und unsere eigene Ohnmacht empfinden wir und empfinden auch, was wir geworden wären im Laufe des Erdenganges oder der Welt überhaupt, und empfinden unser ohnmächtiges Dasein, das so weit von dem göttlichen Dasein entfernt ist. Da empfinden wir Angst vor dem Ideal, dem wir gleich werden müssen, und vor der Größe der Anstrengung, die uns hinführen soll zu dem Ideal. Wie wir die ganze Größe der Anstrengung empfinden müssen durch die Esoterik, so müssen wir auch diese Angst empfinden als ein Ringen, das wir uns vornehmen, ein Ringen mit dem Geiste der Welt. Und wenn wir diese unsere Kleinheit empfinden und die Notwendigkeit, wie wir ringen müssen, um unser Ideal zu erreichen, um eins zu werden mit dem, was in der Welt wirkt und webt, wenn wir es ängstlich empfinden, dann auch nur können wir die Angst ablegen und uns auf den Weg begeben, auf die Wege, die uns zu unserm Ideale hinführen. Indem wir es aber so recht ganz voll empfinden, tritt wieder eine bedeutsame Imagination vor uns. Wenn wir nie ein Evangelium gelesen hätten, wenn die Menschen nie ein solches äußeres Buch gehabt hätten — als ein geistiges Bild tritt es vor unser hellseherisches Auge: Wir werden hinausgeführt in die Einsamkeit, die uns klar vor dem inneren Auge steht, und wir werden vor das Bild des Idealmenschen geführt, der im menschlichen Leibe all die Ängste in der unendlichen Größe empfindet, die wir selbst schmecken in diesem Augenblick. Das Bild des Christus in Gethsemane steht vor uns, wie er die Angst erlebt in ungeheuer gesteigertem Maße, die wir selbst empfinden müssen auf dem Erkenntnispfad — die Angst, die ihm den Blutschweiß auf die Stirne treibt. Dieses Bild haben wir auf einem bestimmten Punkte unseres okkulten Weges ohne äußere Urkunden. Und gleichsam wie zwei mächtige Pfeiler stehen vor uns auf dem okkulten Wege die Versuchungsgeschichte, geistig erlebt, und die ölbergszene, entsprechend geistig erlebt. Und wir verstehen dann die Worte: Wachet und betet und lebet im Gebete, auf daß ihr nicht versucht werdet, jemals stehen zu bleiben auf irgendeinem Punkte, sondern stetig vorwärts schreitet! Das heißt das Evangelium zunächst erleben; heißt alles das so erleben, daß man es hinschreiben könnte, wie es die Evangelienschreiber geschildert haben. Denn die zwei Bilder, die eben charakterisiert worden sind, wir brauchen sie nicht dem Evangelium zu entnehmen; wir können sie unserm eigenen Innern entnehmen, können sie heraufholen aus dem Allerheiligsten der Seele. Da braucht kein Lehrer zu kommen und zu sagen: Du sollst vor dir als Imagination hinstellen die Versudiungsgesdiichte, die ölbergszene, — sondern wir brauchen nur vor uns hinzustellen, was in unserem Bewußtsein als Meditation, als Läuterung der allgemeinen menschlichen Empfindungen und so weiter ausgebildet werden kann. Dann können wir, ohne daß es jemand uns aufzwingt, die Imaginationen heraufholen, die im Evangelium enthalten sind.