Liebe & Egoismus
Eine zweite Grundkraft ist die Liebe. Niemandem fehlt sie, immer ist sie da, sie kann nicht ausgerottet werden. Wer glauben würde, daß der größte Hasser, der größte Egoist keine Liebe habe, ist im Irrtum. Das zu denken ist durchaus falsch. Die Liebessehnsucht ist immer und immer hier vorhanden. Mag es sich um Geschlechtsliebe handeln oder um Liebe zum Kinde, oder zum Freunde, oder um Liebe zu irgend etwas, zu einem Werke, immer ist sie da. Sie kann nicht aus der Seele herausgerissen werden, weil sie eine Grundkraft der Seele ist. Aber so wie der Mensch die Luft zum Atmen braucht, so braucht er das Liebeswerk, die Liebebetätigung für seine Seele. Ihr Gegner, ihre Behinderung, ist der Egoismus. Was tut aber der Egoismus? Er läßt die Liebe nicht hinauswirken, er preßt sie in die Seele hinein, immer und immer. Und wie beim Atmen die Luft ausströmen muß, damit der Mensch nicht ersticke, so muß die Liebe ausströmen, damit die Seele nicht ersticke an dem, was gewaltsam in sie hineingepreßt wird. Besser gesagt: die Seele verbrennt an dem eigenen Liebesfeuer in sich selbst und geht zugrunde.
GA 127, Seite 187
Liebe und Weisheit
Es ist ein wahres Wort: die Liebe ist das höchste Gut. Aber sie kann auch die unheilvollsten Folgen haben. Im alltäglichen Leben sieht man das, und ich erzähle hier ein Beispiel, das erlebt ist. Eine Mutter hat ihr Töchterchen sehr geliebt, und aus Liebe hat sie ihm alles hingehen lassen, was es auch getan hat. Sie hat es nie bestraft, hat ihm jede Laune erfüllt. Eine Giftmischerin ist das Töchterchen geworden, und aus Liebe ist es dies geworden. Liebe muß mit Weisheit gepaart sein, sie muß eine erleuchtete Liebe werden, dann erst kann sie wahrhaft gut wirken. Die theosophische Lehre ist berufen, ihr diese Weisheit zu bringen, ihr diese Erleuchtung zu geben. Und wenn der Mensch in sich aufgenommen hat, was über die Weltentwickelung, über dieses scheinbar so weit, so ferne Liegende gesagt und gelehrt wird, was über den Zusammenhang des Menschen mit dem Makrokosmos mitgeteilt wird, dann wird der Mensch so werden, daß seine erleuchtete Liebe sich dem Nebenmenschen gegenüberstellen wird, um in ihn hineinzusehen, ihn verstehen zu können, und so zur erleuchteten Menschenliebe zu werden.
GA 127, Seite 187