In diesem Zeitalter der Bewußtseinsseele wird die Aufgabe der zivilisierten Menschheit die sein, das ganze menschliche Wesen zu erfassen und es auf sich selbst zu stellen, vieles, außerordentlich vieles von dem, was der Mensch in früheren Zeiträumen instinktmäßig gefühlt, instinktmäßig beurteilt hat, ins volle Licht des Bewusstseins heraufzuheben.

Nicht wahr, viele Schwierigkeiten und vieles Chaotische, das in unserem Zeitraume sich um uns herum und mit uns abspielt, wird einem eigentlich sofort erklärlich, wenn man weiß, dass dies die Aufgabe unseres Zeitalters ist: Instinktives ins Bewusstsein heraufzuheben. Denn das Instinktive geschieht gewissermaßen von selbst; aber was bewusst geschehen soll, das erfordert, dass der Mensch sich innerlich anstrengt, dass er vor allen Dingen beginnt, wirklich aus seinem ganzen Wesen heraus zu denken. Und das scheut der Mensch. Das ist etwas, was der Mensch nicht gern tut: bewusst Anteil nehmen an der Gestaltung der Weltverhältnisse. Außerdem liegt hier ein Punkt, über den sich heute die Menschen noch viel täuschen. Die Menschen heute denken: Nun ja, wir leben ja gerade im Zeitalter der Gedankenentwickelung. – Die Menschen sind stolz darauf, dass heute mehr gedacht wird als früher. Aber zunächst ist dies eine Täuschung, eine Illusion, eine der vielen Illusionen, von denen heute die Menschheit lebt. Das, was die Menschen so stolz macht, dieses Fassen von Gedanken, das ist vielfach instinktiv. Erst wenn das Instinktive, das heraufgekommen ist in der Menschheitsentwickelung und das sich heute im Stolzsein auf das Denken äußert, aktiv wird, wenn wirklich das Intellektuelle nicht bloß aus dem Gehirn, sondern aus dem ganzen Menschen entspringt, wenn das Intellektuelle selbst nur ein Teil wird des ganzen geistigen Lebens, wenn es vom Rationalistischen hinweggehoben und ins Imaginative, Inspirierte, Intuitive heraufgehoben wird, erst dann wird dasjenige, was heraus will in diesem fünften nachatlantischen Bewusstseinsseelenzeitraum, nach und nach herauskommen. Was dem Menschen heute entgegentritt – was ihn schon hinweisen kann darauf, dass ihn gewissermaßen selbst die alltäglichsten Gedanken auf seine besonderen Eigentümlichkeiten in diesem Zeitalter hinweisen -, das ist, was man immer wieder erwähnen muss: das Auftauchen der sogenannten sozialen Frage.

Aber es wird derjenige, der ernsthaftig sich in unsere anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft vertieft hat, sehr leicht zu der Empfindung kommen können, dass doch das Wesentliche in der Gestaltung einer gesellschaftlichen Ordnung, ob man sie nun staatlich oder sonst wie nennt, ausgehen muss von dem, was der Mensch aus sich heraus entwickelt, was er aus sich heraus entwickeln kann mit der Aufgabe, zu regeln den Verkehr von Mensch zu Mensch. Alles, was der Mensch aus sich heraus entwickelt, entspricht natürlich gewissen Impulsen, die zuletzt doch in unserem seelisch-geistigen Leben liegen. Wenn man die Sache so anschaut, wird man fragen können: Ja, muss denn nicht vor allen Dingen die Aufmerksamkeit gerichtet werden auf die sozialen Impulse, auf dasjenige, was aus der Menschennatur heraus will als soziale Impulse? Nennen wir, wobei wir aber nicht an etwas bloß Animalisches denken, diese sozialen Impulse meinetwillen soziale Triebe, wobei wir aber schon bedacht sind darauf, dass der Trieb nicht bloß unbewusst oder instinktiv gedacht werden soll, sondern dass, wenn wir von sozialen Trieben sprechen, wir meinen: Wir stehen im Bewußtseinszeitalter, und der Trieb will eben ins Bewusstsein herauf.

Wenn nun so etwas geltend gemacht wird: Es gibt soziale Triebe, sie wollen sich verwirklichen – da setzt gerade in unserem Zeitalter gleich wiederum die furchtbare Einseitigkeit ein, die nicht beklagt werden soll, die ruhig angeschaut werden soll, weil sie überwunden werden muss. Der Mensch in unserer Zeit ist so sehr geneigt, alle Dinge einseitig zu betrachten! Das ist immer so, als wenn man nur gelten lassen wollte den Ausschlag eines Pendels nach der einen Seite, und niemals bedenken würde, dass das Pendel ja vom Mittelpunkt nach der einen Seite gar nicht ausschlagen kann, ohne dass es auch nach der anderen Seite ausschlägt. Ebenso wenig wie ein Pendel nur nach der einen Seite ausschlagen kann, ebenso wenig können sich äußern im Menschen die sozialen Triebe nur nach der einen Seite. Den sozialen Trieben stehen in der Menschennatur einfach selbstverständlich, wegen dieser Menschennatur, die antisozialen Triebe gegenüber. Und genau ebenso, wie in der Menschennatur es soziale Triebe gibt, gibt es antisoziale Triebe. Das muss vor allen Dingen berücksichtigt werden. Denn die sozialen Führer und Agitatoren, die geben sich der großen Illusion hin, dass sie nur irgendwelche Anschauungen und dergleichen zu verbreiten brauchen, oder irgendeine Menschenklasse aufzurufen brauchen, welche willig oder geneigt ist, die sozialen Triebe, wenn es Anschauungen sind, zu pflegen. Ja, das ist eben eine Illusion, so zu verfahren, denn da rechnet man nicht damit, dass ebenso, wie die sozialen Triebe da sind, sich die antisozialen Triebe immer geltend machen. Das, worum es sich heute handelt, ist, diesen Dingen ohne Illusionen ins Gesicht sehen zu können. Man kann ihnen nur ohne Illusionen ins Gesicht sehen vom Gesichtspunkte einer geisteswissenschaftlichen Betrachtung. Man möchte sagen: Die Menschen verschlafen das Allerwichtigste im Leben, wenn sie dieses Leben nicht vom Gesichtspunkte der geisteswissenschaftlichen Betrachtung ins Auge fassen.

Wir müssen uns fragen: Wie steht es eigentlich mit dem Verkehr des Menschen zum Menschen mit Bezug auf die sozialen und antisozialen Triebe? – Sehen Sie, ein Gegenüberstehen von Mensch und Mensch ist seiner Wirklichkeit nach im Grunde etwas recht Kompliziertes! Wir müssen natürlich den Fall, ich möchte sagen, radikal ins Auge fassen. Wohl ist das Gegenüberstehen ein verschiedenes, differenziert sich nach den verschiedenen Verhältnissen, aber wir müssen das gemeinsame Merkmal im Gegenüberstehen eines Menschen zum andern Menschen ins Auge fassen, müssen uns fragen: Was geschieht

da eigentlich in der Gesamtwirklichkeit – nicht bloß in dem, was den äußeren Sinnesanschauungen sich darbietet -, was geschieht in der Gesamtwirklichkeit, wenn ein Mensch dem andern gegenübersteht? – Da geschieht nichts Geringeres, als dass eine gewisse Kraft wirkt von Mensch zu Mensch hinüber. Das Gegenüberstehen von Mensch zu Mensch bedeutet einfach, dass eine gewisse Kraft wirkt von Mensch zu Mensch. Wir können bei dem, was wir tun von Mensch zu Mensch, nicht gleichgültig einander im Leben gegenüberstehen, nicht einmal in bloßen Gedanken und Empfindungen, sogar wenn wir dem Raume nach entfernt voneinander sind. Wenn wir irgendwie zu sorgen haben für den anderen Menschen, wenn wir irgendeine Verkehrsmöglichkeit zu schaffen haben, so wirkt eine Kraft von dem einen Menschen zu dem anderen hinüber. Das ist ja dasjenige, was dem sozialen Leben zugrunde liegt. Das ist dasjenige, was, wenn es sich verzweigt, verstrickt, eigentlich die soziale Struktur der Menschen begründet. Man bekommt natürlich das Phänomen am reinsten, wenn man an den unmittelbaren Verkehr von Mensch zu Mensch denkt: da besteht das Bestreben, durch den Eindruck, den der eine Mensch auf den andern macht, dass der Mensch eingeschläfert wird. Also das ist etwas Durchgehendes im sozialen Leben, dass der eine Mensch durch den anderen, mit dem er im Verkehr steht, eingeschläfert wird. Fortwährend ist – der Physiker würde sagen – die latente Tendenz da, dass im sozialen Verkehr ein Mensch den andern einschläfert.

Warum ist denn das so? Ja, sehen Sie, das beruht auf einer sehr wichtigen Einrichtung in der Gesamtwesenheit der Menschen. Es beruht darauf, dass im Grunde genommen dasjenige, was wir soziale Triebe nennen, eigentlich überhaupt nur beim gewöhnlichen gegenwärtigen Bewusstsein sich so recht aus der Seele des Menschen heraus entwickelt, wenn der Mensch schläft. Sie sind, insofern Sie nicht zur Hellsichtigkeit aufsteigen, eigentlich nur von sozialen Trieben durchsetzt, wenn Sie schlafen. Und nur das, was fortwirkt aus dem Schlaf in das Wachen herein, wirkt herein im Wachen als sozialer Trieb. Wenn Sie aber dieses wissen, so brauchen Sie sich nicht zu verwundern darüber, dass das soziale Wesen Sie einschläfern will durch das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Im Verhältnis von Mensch zu Mensch soll sich entwickeln der soziale Trieb. Er kann sich nur entwickeln im Schlafe. Daher entwickelt sich im Verkehr von Mensch zu Mensch die Tendenz, dass der eine Mensch den andern behufs Herstellung eines sozialen Verhältnisses einschläfert. Das ist eine Tatsache, die frappierend ist, die sich aber dem Betrachter der Wirklichkeit des Lebens eben sogleich darbietet. Unser Verkehr von Mensch zu Mensch besteht darinnen, dass vor allen Dingen unser Vorstellungsvermögen in diesem Verkehre eingeschläfert wird, behufs der Herstellung der sozialen Triebe von Mensch zu Mensch.

Aber Sie können natürlich nicht fortwährend schlafend im Leben herumgehen. Die Tendenz, soziale Triebe herzustellen, besteht schon darinnen und drückt sich darinnen aus, dass Sie eigentlich fortwährend Neigung haben sollten zum Schlafen. Die Dinge, die ich bespreche, gehen natürlich alle unterbewusst vor sich, aber sie gehen nicht weniger wirklich und nicht weniger unser Leben durchsetzend fortwährend vor sich. Also es besteht gerade zur Herstellung der sozialen Menschheitsstruktur eine fortwährende Neigung, einzuschlafen.

Dagegen wirkt noch etwas anderes. Es wirkt das fortwährende Sichsträuben, das fortwährende Aufbäumen der Menschen gegen diese Tendenz, wenn sie eben nicht schlafen. So dass Sie, wenn Sie einem Menschen gegenüberstehen, immer in folgenden Konflikten drinnenstehen: Dadurch, dass Sie ihm gegenüberstehen, entwickelt sich in Ihnen immer die Tendenz, zu schlafen, das Verhältnis im Schlafe zu ihm zu erleben; dadurch, dass Sie nicht aufgehen dürfen im Schlafen, dass Sie nicht versinken dürfen im Schlafen, regt sich in Ihnen die Gegenkraft, sich wach zu halten. Das spielt sich immer ab im Verkehr von Mensch zu Mensch: Tendenz zum Einschlafen, Tendenz, sich wach zu halten. Tendenz, sich wach zu halten, ist aber antisozial in diesem Fall, Behauptung der eigenen Individualität, der eigenen Persönlichkeit gegenüber der sozialen Struktur in der Gesellschaft. Einfach indem wir Mensch unter Menschen sind, pendelt unser inneres Seelenleben zwischen Sozialem und Antisozialem hin und her. Und dasjenige, was so als diese zwei Triebe in uns lebt, was zu beobachten ist zwischen Mensch und Mensch, wenn man Mensch und Mensch einander gegenüberstehen sieht und sie okkult beobachtet, das beherrscht unser Leben. Wenn wir Einrichtungen treffen – und entfernen sich diese Einrichtungen noch so sehr für das heutige sehr gescheite Bewusstsein von der Wirklichkeit -, sie sind doch ein Ausdruck dieses Pendelverhältnisses zwischen sozialen und antisozialen Trieben. Die Nationalökonomen mögen darüber nachdenken, was Kredit ist, Kapital ist, Rente ist und so weiter; diese Dinge, die im sozialen Verkehr Gesetzmäßigkeit ausmachen, sind nur Ausschläge des Pendels dieser beiden Triebe, des sozialen und des antisozialen Triebes.

Sehen Sie, an diese Dinge müsste heute derjenige verständig anknüpfen, real wissenschaftlich anknüpfen, der daran denkt, die Heilmittel in dieser Zeit zu finden. Denn woher kommt es denn, dass in unserer Zeit die soziale Forderung sich erhebt? Nun, wir leben im Zeitalter der Bewußtseinsseele, wo der Mensch auf sich selbst sich stellen muss. Worauf ist er da angewiesen? Er ist darauf angewiesen, um seine Aufgabe, seine Mission in unserem fünften nachatlantischen Zeitraum zu erreichen, sich zu behaupten, sich nicht einschläfern zu lassen. Er ist gerade für seine Stellung in der Zeit angewiesen, die antisozialen Triebe zu entwickeln. Und es würde nicht die Aufgabe unseres Zeitraums vom Menschen erreicht werden können, wenn nicht gerade die antisozialen Triebe, durch die der Mensch sich auf die Spitze seiner eigenen Persönlichkeit stellt, immer mächtigere und mächtigere werden. Die Menschheit hat heute noch gar keine Ahnung davon, wie mächtig immerwährend bis ins dritte Jahrtausend hinein die antisozialen Triebe sich entwickeln müssen. Gerade damit der Mensch sich richtig auswächst, müssen die antisozialen Triebe sich entwickeln.

GA 186 (Die soziale Grundforderung unserer Zeit – In geänderter Zeitlage)

Seite 159 ff.