Geänderte Zeitenlage
Jetzt beginnt eine Zeit, wo neue Offenbarungen durch die Schleier der Ereignisse in den menschlichen, geistigen und seelischen Horizont hereinbrechen. Daher muß für viele Dinge eine Erneuerung kommen. Wir können ja auf das allerwichtigste Erdenereignis gerade mit Bezug darauf hinweisen: auf das Mysterium von Golgatha. Das Mysterium von Golgatha hat gewiß der Erdenentwickelung erst den Sinn gegeben. Der Erdenplanet wäre geistig-seelisch nicht das, was er ist, wenn sich auf ihm nicht das Mysterium von Golgatha abgespielt hätte. Aber etwas anderes ist dieses Mysterium von Golgatha als eine Tatsache, die sich abgespielt hat, und etwas anderes sind die Lehren, welche als christliche Lehren über dieses Mysterium von Golgatha durch die Jahrhunderte geherrscht haben. Wer dies nicht ins Auge faßt, wird sich kaum hineinfinden in die Grundforderungen unserer Zeit. (S.269)
Nehmen Sie zum Vergleich etwas ganz Gewöhnliches. Nicht wahr, es ist doch zweierlei: ein Ereignis, das sich abspielt vor Ihren Augen, und dasjenige, was zwei oder drei Menschen, die dieses Ereignis sich haben abspielen sehen, über dieses Ereignis erzählen, über dieses Ereignis sagen. Und bekannt geworden in einem höheren geistigen Sinne ist ja über das Mysterium von Golgatha als einer Tatsache den Menschen natürlich nichts anderes als das, was gesagt worden ist durch die Jahrhunderte. Dieses aber, was gesagt worden ist über ein geistiges Ereignis – und ein solches ist das Mysterium von Golgatha, wenn es sich auch auf dem physischen Plane abgespielt hat -, das ist noch vom Standpunkte des alten Weisheitsgutes heraus gesagt worden. Selbst die Evangelien – Sie wissen das aus meiner Schrift «Das Christentum als mystische Tatsache» – sind geschrieben vom Standpunkte des alten Weisheitsgutes aus. Das heißt, man hatte gewisse Vorstellungen aus den alten Mysterien, oder überhaupt altererbte Vorstellungen. In die Sprache dieser Vorstellungen kleidete man dasjenige, was sich auf Golgatha abgespielt hatte. Das sind aber Vorstellungen, die eben der atavistischen Menschheitsperiode angehören. Es mußte zuerst, um überhaupt verstanden zu werden, das Mysterium von Golgatha in diese Sprache eingekleidet werden. Aber heute leben wir in einer Zeit, wo diese Art, geistig die Welt anzuschauen, wie sie in alten Zeiten richtig war, antiquiert ist. Denn neue Offenbarungen geistiger Art, wenn sie auch die Menschen noch nicht anerkennen wollen, brechen herein, die allmählich gleichwertig werden den alten atavistischen Offenbarungen. D a h e r muß, wenn den Forderungen der Zeit Rechnung getragen werden soll, über das Mysterium von Golgatha als einer Tatsache auch in der neuen Sprache, den neuen Vorstellungen geredet werden. Das heißt, auch die christlichen Vorstellungen werden demjenigen Rechnung zu tragen haben, was in die Menschheitsentwickelung hereintritt. Sonst würde das Christentum eine Summe von althergebrachten Vorstellungen bleiben. Und alles das, was im Innern der Menschen als Forderungen der Zeit lebt, das würde ersterben gegenüber den althergebrachten Vorstellungen, das würde keine Nahrung finden. Gerade das ist es, worauf anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft eingehen will, daß verständlich gemacht werden müssen die neuen geistigen Offenbarungen, und daß das größte Erdenereignis, das Mysterium von Golgatha, in die Vorstellungen dieser neuen geistigen Offenbarungen zu kleiden ist.
Nun kann die Frage entstehen, und sie ist eine außerordentlich wichtige Frage: Wer von der geistigen Welt steckt denn eigentlich hinter diesen geistigen Offenbarungen, die durch den Schleier der Erscheinungen neu in die Menschheitsgeschichte hereinbrechen? Sie kennen die Aufeinanderfolge der verschiedenen Hierarchien, wie ich sie in meinen Schriften dargestellt habe, wissen daher, was innerhalb der Hierarchien-Geisterordnung die sogenannten Geister der Persönlichkeit sind. Sie wissen, die Geister der Persönlichkeit stehen um eine Stufe tiefer in der hierarchischen Geisterordnung als diejenigen Geister, zu denen wir zum Beispiel Jahve rechnen, die sogenannten Geister der Form.
Zu jenen Offenbarungen, die an die Menschheit herangetreten sind durch die Geister der Form, wollen nunmehr hinzukommen die Geister der Persönlichkeit, allerdings erst sich vorbereitend, nicht in jener Mächtigkeit, mit der die Geister der Form sich geoffenbart haben. Und wenn wir nach einem Worte suchen für das, was die Geister der Form eigentlich sind, so können wir bei dem alten guten Worte «Schöpfer» bleiben. Das biblische Wort «Schöpfer» umfaßt ungefähr alles, was auch wir mit den Geistern der Form verbinden müssen, wenn wir sie betrachten in ihrem Einfluß auf den Menschen von der alten lemurischen Zeit bis heute und auch in die Zukunft hinein. Sie werden ja ihre Taten nicht einstellen, aber sie werden sie gewissermaßen auf anderem Plane zu verrichten haben.
Wenn wir alles das, was wir da geisteswissenschaftlich betrachten können, ins Auge fassen, so können wir die Geister der Form eben schöpferische Geister nennen. Ihnen verdankt der Mensch vor allen Dingen sein Dasein, so wie er als Erdenmensch ist.
Bis zu unserem Zeitalter aber waren die Geister der Persönlichkeit nicht schöpferische Geister. Sie waren Geister, welche verschiedene Angelegenheiten vom geistigen Reiche aus ordneten. Sie können ja nachlesen in meiner «Geheimwissenschaft» über die Tätigkeit dieser Geister der Persönlichkeit. Aber es beginnt die Zeit, wo sie zunächst wirklich einzugreifen haben in das Schöpferische der Menschheitsentwickelung. Später werden sie auch in das Schöpferische der anderen Reiche einzugreifen haben. Es findet ja Entwickelung statt im Hierarchischen. Die Geister der Persönlichkeit steigen zu einer schöpferischen Tätigkeit auf. Das weist überhaupt hin auf ein bedeutsames Geheimnis in der Menschheitsentwickelung. Wer nicht in oberflächlicher Naturbetrachtung, wie sie heute gang und gäbe ist, die Menschheitsentwickelung zu umfassen sucht, sondern wer sie mit geisteswissenschaftlichen Impulsen innerlich anschaut, der weiß, daß seit dem Beginne der jetzt oft von verschiedenen Gesichtspunkten besprochenen fünften nachatlantischen Zeit [15.Jahrhundert] in dem Menschen etwas zu ersterben beginnt.
Mit diesem Ersterben, ich möchte sagen, mit diesem Abgelähmtwerden von etwas in unserer Natur, mit dem hängt im Grunde unser ganzer Fortschritt auch im Seelischen und Geistigen zusammen. Wir sind nicht mehr in demselben Sinne lebendige Menschenwesen, wenn ich es kraß ausdrücken will, wie es die Menschen vor Jahrhunderten oder gar vor Jahrtausenden waren. Die hatten stärkere Vitalität in sich, stärkere Kraft in sich, Kraft, die vom bloßen Leiblichen ausging. Der Mensch kennt ja das Sterben nur, wenn es in der radikalen Form des Auf hörens des Erdenlebens auftritt. Allein, Sie wissen aus den geisteswissenschaftlichen Betrachtungen, daß in uns fortwährend etwas stirbt. Und wenn nicht fortwährend etwas stürbe, so hätten wir kein Bewußtsein. Bewußtsein hängt zusammen gerade mit dem Ersterben von etwas in uns. [GA 26 LEITSÄTZE 11 ff]
Aber dieses Ersterben, dieser Prozeß des Ersterbens, der ist jetzt stärker, als er zum Beispiel im ersten christlichen Jahrhundert oder gar in den vorchristlichen Jahrhunderten war. Dasjenige, was im Menschen von den schöpferischen Geistern als Geistern der Form herrührte, das beginnt, wenn ich so sagen darf, stark zu sterben, und neues Schöpferisches muß der Menschennatur eingefügt werden, Schöpferisches, das zunächst vom Geistigen auszugehen hat. Es ist in der Tat so, daß dem Menschen, der sich nicht dagegen sträubt, von unserem Zeitalter ab schöpferische Kräfte aus dem Geiste heraus zufließen. Diese schöpferischen Kräfte sucht Geisteswissenschaft zu verstehen. Sie sucht das, was hereindringt aus Welten, die bisher nicht ihre Impulse in die Menschheitsentwickelung einfließen ließen, was als neues Geistiges in die Zeitentwickelung eintritt, denkend, schauend zu erfassen. Und das ist eigentlich, was im wirklich modernen Sinne orientierte Geisteswissenschaft ist. Also die tritt nicht auf wie irgendein anderes, sei es wissenschaftliches oder sonstiges Programm, sondern die tritt gewissermaßen auf, weil die Himmel neue Offenbarungen den Menschen zusenden, und weil diese neuen Offenbarungen verstanden werden sollen. Wer nicht in diesem Sinne die Aufgabe der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft versteht, der versteht sie überhaupt nicht. Denn diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft würde schweigen, wenn sie nicht Neues, eben erst Hereinbrechendes, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, von den Himmeln der Menschheit sich Offenbarendes zu verkünden hätte.
Und was sich offenbart durch den Schleier der Erscheinungen, das ist der Ausdruck eines neuen schöpferischen Prinzips, das besorgt wird durch die Geister der Persönlichkeit. Damit hängt es zusammen, daß gerade dieses unser Zeitalter, von dem wir ja sagten, daß es begonnen habe mit dem fünfzehnten nachchristlichen Jahrhundert, als seine charakteristische Eigenschaft die Ausprägung der Impulse der Persönlichkeit hat. Die Persönlichkeit will sich, wenn ich den trivialen Ausdruck gebrauchen darf, auf die eigenen Füße stellen, und wird das immer mehr und mehr wollen in das dritte Jahrtausend hinein. Dann werden andere Impulse nach Vollendung der Persönlichkeit auftreten. Indem Sie das, was ich eben gesagt habe, überdenken, sehen Sie gewissermaßen, wie diese Neuoffenbarung der Geister des Lichtes, der Geister der Persönlichkeit, an die Menschen herankommt. Dem aber stehen gegenüber auch gerade seit dem Beginne dieser neuen fünften nachatlantischen Zeit gewisse Geister der Finsternis. Denn sobald wir hinter den Schleier der Erscheinungen schauen, merken wir gleich, wie einer gewissen Abteilung von Geistern andere, entgegengesetzte gegenüberstehen.“… (S.273)
Rudolf Steiner 1918 – Auszug aus GA 186 S.268-293