„Der Mensch ist, das haben wir ja gerade auseinandergesetzt, in alten Zeiten gewissermaßen unbelehrt von den Göttern in das physische Dasein eingetreten, musste durch die Mysterien belehrt werden. Heute tritt er belehrt ein, und es muss nur das, was in seiner Seele ist, ihm zum Bewusstsein gebracht werden. In alten Zeiten war in Bezug auf das soziale, das wirtschaftliche Zusammenleben eben einfach die Menschheit so eingerichtet, dass der Mensch in den sozialen Zusammenhang, in die Gruppe hineingeboren worden ist. Er war in die Gruppe hineingeboren nach den Kräften, die in ihm gewirkt haben vor der Geburt. Es war nicht allein das Prinzip der physischen Vererbung, das zum Beispiel den ältesten Formen der Menschenungleichheit, den Kasteneinteilungen zugrunde gelegen hat. In den ältesten Kasteneinteilungen war es durchaus so, dass die Leiter der sozialen Ordnung sich gerichtet haben nach der Art und Weise, wie der Mensch vor seiner Geburt oder vor seiner Empfängnis vorbestimmt wurde für eine bestimmte Gruppe unter den Menschen. Der Mensch war wirklich in den Zeiten, in denen noch weniger Erdeninkarnationen in seinem vorhergehenden Dasein lagen, durch diese wenigen Inkarnationen in einer ganz bestimmten Weise in Gruppen hineingeboren, und innerhalb dieser Gruppen nur konnte er sich sozial entfalten. Wer im alten Indien einer bestimmten Kaste angehörte, würde, wenn er in einer anderen Kaste hätte leben sollen, wegen seiner früheren Inkarnation und dessentwegen, was er vor seiner Geburt in der geistigen Welt durchgemacht hatte, zugrunde gegangen sein. Diesen Kasten lag eben nicht nur Blutsvererbung zugrunde, sondern etwas, was auch geistige Prädetermination war. Darüber ist der Mensch hinausgewachsen. Zwischen unserer Zeit und jener Zeit liegt nun wiederum auch in dieser Beziehung ein Wendepunkt. Die Menschen tragen heute eigentlich nur noch als Scheingebilde die Merkmale der Gruppenhaftigkeit an sich. Die Menschen werden in Nationen hineingeboren, sie werden auch noch in eine gewisse Klassenschichtung hineingeboren; aber in dem Maße, in dem sie dann heranwachsen in einem bestimmten Zeitalter, zeigt es sich schon verhältnismäßig früh in der Kindheit, dass eine solche Determination vom vorgeburtlichen Dasein nicht mehr vorhanden ist. Belehrt werden die Menschen heute von den Göttern im vorgeburtlichen Dasein. Der Stempel einer bestimmten Gruppe wird ihnen nicht mehr aufgedrückt. Das ist etwas, was als ein letzter Rest noch in der physischen Vererbung zurückbleibt. Heute einer Nationalität anzugehören mit seinem Bewusstsein, ist gewissermaßen ein Stück Erbsünde, ist etwas, was nicht mehr in das Seelische des Menschen hineinspielen sollte.
Dagegen spielt in unserer heutigen Zeit eine bestimmte Rolle, dass der Mensch, indem er heranwächst, zugleich herauswächst aus allen Gruppenbildungen. Aber innerhalb des wirtschaftlichen Lebens kann er nun nicht ohne Gruppenbildung bleiben, denn in Bezug auf das wirtschaftliche Leben ist niemals der einzelne maßgebend. Was geistiges Leben ist, steigt aus dem tiefsten Inneren des Menschen herauf, worinnen er eine gewisse Harmonisierung seiner Fähigkeiten nicht nur erlangen kann, sondern durch eine gewisse Schule ergänzen, sogar erhalten sollte. Was aber wirtschaftliches Urteil ist, kann heute niemals von einem einzelnen Menschen ausgehen. Ich habe Ihnen Beispiele dafür angeführt, wie das wirtschaftliche Urteil irren muss, wenn es von einem einzelnen Menschen ausgehen soll. Ich mache noch einmal auf ein Beispiel aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufmerksam.
Ich habe Ihnen gesagt, dass in einem bestimmten Zeitraume, um die Mitte und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, überall in Parlamenten und in sonstigen Körperschaften die Diskussion auftrat über die Goldwährung. Was die Redner, die dazumal für die Goldwährung eingetreten sind, vorgebracht haben, waren Auseinandersetzungen unter wirklich recht gescheiten Leuten. Ich sage das nicht aus Ironie, sondern weil die Menschen, die damals über die Goldwährung als Praktiker und als Theoretiker in Parlamenten und anderen Körperschaften gesprochen haben, wirklich sehr gescheit waren, und das, was über die Goldwährung in den einzelnen Ländern gesagt worden ist, gehört eigentlich zu den besten Auslebungen des Parlaments. Und fast überall ist auf eines hingewiesen worden. Aus großem Scharfsinn heraus ist darauf hingewiesen worden, die Goldwährung werde den Freihandel auf die Beine bringen und alles Schutzzollwesen hinwegraffen. – Und wenn man heute noch die Dinge, die dazumal über die Wirkungen der Goldwährung auf den Freihandel gesagt worden sind, liest, hat man seine helle Freude darüber, wie gescheit die Menschen dazumal waren. Aber das gerade Gegenteil ist eingetreten von dem, was die allergescheitesten Leute gesagt haben: Es sind als Folge der Goldwährung überall die Schutzzollbestrebungen aufgekommen. Die Gescheitheit im wirtschaftlichen Leben, die aus den einzelnen Persönlichkeiten hervorging, hat den Menschen gar nichts geholfen. Das könnte man auf den verschiedensten Gebieten nachweisen, denn es ist einmal so, dass der Mensch zwar über das, was eine Erkenntnissache ist in Bezug auf die Natur oder sonst eine Erkenntnissache des Menschen, kompetent ist als einzelnes Individuum; in Bezug auf wirtschaftliche Dinge ist aber der Mensch niemals kompetent als einzelnes Individuum. Man kann nicht ein Urteil haben über wirtschaftliche Dinge im Konkreten als einzelnes Individuum. Ein wirtschaftliches Urteil kann nur entstehen, wenn sich Menschen zusammenschließen, sich assoziieren, und der eine den anderen stützt, wenn Gegenseitigkeit in der Assoziation herrscht. Es ist nicht möglich, dass der einzelne Mensch zu einem solchen wirtschaftlichen Urteil kommt, das dann in die wirtschaftliche Tätigkeit übergehen kann. Es ist das Gegenteil von dem der Fall, was der Mensch bei irgendeinem Wissensurteil hat. Bei einem Wissensurteil soll er aus dem ganzen Menschen heraus ein umfassendes Urteil abgeben; im konkreten wirtschaftlichen Urteil und Handeln handelt es sich darum, dass der einzelne etwas Partielles weiß, der zweite wieder etwas, der dritte wieder etwas; der Produzent auf einem Gebiete weiß etwas, der Konsument auf diesem selben Gebiete weiß etwas. Das muss zusammenfließen; es muss ein Gruppenurteil, ein Kollektivurteil entstehen. Mit anderen Worten: die alten Gruppenbildungen sind abgetan; aus dem wirtschaftlichen Leben müssen durch die Menschen selbst Gruppenbildungen entstehen. Das müssen die Assoziationen des wirtschaftlichen Lebens sein.
Es geht aus dem Begriff einer notwendigen Entwickelungskraft hervor, dass das assoziative Leben die Menschen ergreifen muss; dieses assoziative Leben muss die alten Gruppenzusammenhänge ablösen, die sich heute nur noch wie eine Erbsünde durch die Menschheit hindurch fortpflanzen.
Wenn wir das bedenken, so werden wir uns ja auch sagen: In Bezug auf das Wissen sind in alten Zeiten die Menschen unbelehrt auf die Erde herabgestiegen; in den Mysterien haben sie das Wissen empfangen. Sie steigen heute belehrt herab, und wir haben unsere Didaktik so einzurichten, dass wir das, was die Menschen von den Göttern gelernt haben, aus ihnen herausholen. In Bezug auf wirtschaftliche Einrichtungen waren die Menschen früher determiniert; es war ihnen gewissermaßen von den Göttern der Stempel aufgedrückt. Sie wurden in irgendeine Kaste, in irgendeine Gruppe hineingeboren. Das ist vorbei. Die Menschen werden ohne Stempel geboren, die Menschen werden gewissermaßen als einzelne Individualitäten hineingestellt in die Menschheit. Die Gruppenbildungen müssen sie selber vollziehen aus ihrer Geistigkeit heraus.
Es handelt sich ja wirklich nicht darum, solche Menschen zusammenzufassen, welche sich zur Anthroposophie bekennen; ob sie sich zur Anthroposophie bekennen oder nicht, das wird davon abhängen, was sie die Götter gelehrt haben vor ihrer Geburt, ob sie durch ihre früheren Inkarnationen reif waren zu dieser Götterbelehrung und jetzt so herunterkommen, dass wir aus ihnen Anthroposophie hervorholen können. Sie ist in viel mehr Menschen drinnen, als man heute glaubt, und eine große Anzahl ist nur zu faul, um das, was in ihr ist, aus sich herauszuholen, oder aber auch, es ist der Schulunterricht nicht so eingerichtet, dass die Hüllen gelöst werden und die Menschen wirklich zu ihrem Bewusstsein kommen. Auf dem praktischen, namentlich auf dem wirtschaftlichen Gebiete wäre es geradezu sinnlos, die Menschen zusammenzufassen deshalb, weil sie Anthroposophen sind; sondern man fasst das, was Anthroposophie ist, wiederum in dem Sinne auf, um Einsichten zu bekommen in die Art und Weise, wie die Menschen aus ihrem Bewusstsein heraus die Gruppierungen suchen, suchen müssen nach ihren früheren Inkarnationen. Es handelt sich darum, den Menschen Gelegenheit zu geben, die Gruppenbildungen vorzunehmen, also dasjenige auszuführen, was ganz in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit veranlagt ist. Also auch da kommt nicht in Frage, Menschen, die unter einer bestimmten Dogmatik leben, zusammenzugruppieren, sondern Menschen, die durch ihre vorhergehenden Erdenleben dazu berufen sind, die Möglichkeit zu geben, in Gruppen sich zusammenzufinden. In diesen Dingen stecken ja, sobald man aus dem Abstrakten ins Konkrete übergeht, außerordentlich viele Rätsel, und, ich möchte sagen, außerordentlich viel geheimnisvolle Dinge. Denn ob Menschen zu der einen oder zu der anderen Gruppe gehören, das ist durchaus nicht eine Sache von großer Einfachheit.
Die Sehnsucht, die die Menschen nach großer Einfachheit haben, tritt ja in einer merkwürdigen Weise auf. Da wurde mir eben eine kleine Mitteilung über einen Vortrag gegeben, den der löbliche Frohnmeyer wiederum über Theosophie und Anthroposophie gehalten hat, und da wird gesagt: «Die am Schlusse angebrachte, rein persönliche Gegenüberstellung zum Christentum erinnerte an die bekannte Tatsache, .» Er meint offenbar, die Anthroposophen verdrieße es, dass das Große so einfach ist, wie es die Faulheit des Pfarrers Frohnmeyer gern haben möchte, weil er sich nicht anstrengen möchte, das Große in seiner Differenziertheit zu kennen. Man muss nur die Dinge immer in die richtige Sprache übersetzen! Das ist es, was wir gerade als Aufgabe haben: die Dinge in die richtige Sprache zu übersetzen.
Selbstverständlich kann es sich ja nicht darum handeln, jedem die Lehre von dem Belehrtwerden der Menschen vor ihrer Geburt, die Lehre von dem Hineingeborenwerden in Gruppen früher und Nichthineingeborenwerden in Gruppen jetzt, gleich an den Kopf zu werfen; aber wir selbst können uns von diesen Wahrheiten durchdringen lassen und werden dann die Möglichkeit finden, aus der Art und Weise, wie vorgegangen wird, den Leuten zu zeigen, dass wir ebenso weit davon entfernt sind, Dogmatik in die Schule einzuführen, wie davon, Leute, die sich zu einer bestimmten Dogmatik bekennen, in wirtschaftlichen Gruppen, in wirtschaftlichen Assoziationen zusammenzufassen.
Das ist auch bei unserer Stuttgarter Waldorfschule eingehalten worden, wo Sie sehen, dass wir gar kein Interesse daran hatten, etwa den Kindern Anthroposophie beizubringen. Wir wollen eine solche Unterrichtsmethode haben, die man eben nur durch Anthroposophie gewinnen kann. Und das ist etwas rein Sachliches. Aber für diejenigen Kinder, die es wollen oder deren Eltern wollen, dass sie in der katholischen Religionslehre unterrichtet werden, kommt ein katholischer Pfarrer, und für diejenigen, die evangelischen Religionsunterricht bekommen sollen, kommt der evangelische Pfarrer in die Waldorfschule. Wir legen diesen Menschen kein Hindernis entgegen. Nur war es nötig in der heutigen Zeit, wo so viele Eltern, namentlich Eltern aus dem Proletariat (Arbeiterschaft), überhaupt nicht mehr daran denken, ihre Kinder in den katholischen oder evangelischen Religionsunterricht zu schicken, diese Leute zu fragen, ob sie vielleicht einen freien, aus anthroposophischer Erziehung herausgeborenen Religionsunterricht haben wollen. Und da zeigte es sich allerdings, dass diejenigen, die sonst religionslos erzogen würden, die überhaupt in gar keinen Bekenntnisunterricht heute mehr hineingehen würden, sehr zahlreich zum sogenannten anthroposophischen Religionsunterricht kommen, der aber nicht Anthroposophie lehrt, sondern der eben nur aus Anthroposophie herausgeboren ist. Dass nun diese Kinder eifriger bei ihrem Religionsunterricht sind als die beim katholischen oder evangelischen Pfarrer, dafür können wir ja nichts, sondern vermutlich der katholische oder der evangelische Pfarrer. Dass die Sache so weit getrieben worden ist, dass nach und nach eine Anzahl Kinder zum anderen Religionsunterricht herübergegangen ist, und dass es so weit gekommen ist, dass dann, ich glaube, der evangelische Religionslehrer gesagt hat: Nächstens werde ich überhaupt niemanden hier haben in meiner Klasse, weil mir alle davonlaufen -, das ist auch ganz gewiss nicht unsere Schuld. Aber das war schon im vorigen Jahre. War es uns etwa darum zu tun, irgendwelche Dogmatik an die Kinder heranzubringen? Wir haben gar kein Interesse daran. Wir wissen, wenn es unserer Methode gelingt, die Hülle – wie ich es ausgeführt habe – hinwegzuschaffen, werden die Kinder den besten Unterricht haben, nämlich denjenigen, den sie vor ihrem Heruntersteigen auf die Erde in der geistigen Welt empfangen haben.“


Rudolf Steiner am 22.01.1921 in der GA 203 („Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwickelung“), S. 104 ff.