GA 266b

ESOTERISCHE STUNDE
München, 1. September 1912 (Aufzeichnung A)

Der Esoteriker hat auf manches zu achten, was für den Exoteriker ganz belanglos ist. So muß er sich immer vor Augen halten daß, wenn er nach Wahrheit strebt, es immer nur eine relative Wahrheit sein kann, daß man als Esoteriker von ewigen Wahrheiten überhaupt nicht sprechen kann. In unser Streben mischen sich auch immer unsere Wünsche, und wir müssen uns sagen, daß wir immer lieber eine Wahrheit annehmen, die uns gefällt, als eine solche, die uns unsympathisch ist. Zum Beispiel der Gedanke der Unsterblichkeit ist als solcher den meisten Menschen zusagender als der, daß mit dem Tode alles aus ist, und sie sind deshalb geneigt, lediglich aus diesem Grunde ihn als Wahrheit anzunehmen. Das soll der Esoteriker aber nicht. Er soll seine Wünsche, sein Persönliches ausschalten und dann forschen. Hierfür sind uns unsere Meditationen gegeben, in denen wir sozusagen geistig ruhen sollen auf einem bestimmten Gedankeninhalt. Es kommt dabei nicht so sehr darauf an, daß wir den Inhalt der Meditation durchdenken, als daß wir unsere Seele darin ruhen lassen; denn durch diese fortwährende Wiederholung werdenunsere Seelenkräfte gestärkt. Die Neigung, an absolute, ewige Wahrheiten zu glauben und sie zu verfechten, ist eine Eigenschaft unserer Bewußtseinsseele. Es! ist nun möglich, daß die Bewußtseinsseele so die Oberhand gewinnt, daß sie diese Ideen nicht mehr beherrscht, sondern von ihnen beherrscht wird und sie nach außen ergießt. Im Okkultismus hat man dafür einen Ausdruck; man nennt eine solche Bewußtseinsseele mit diesen Ideen den «inneren Sadduzäer». Wir tragen alle den inneren Sadduzäer in uns, und der Esoteriker hat die Pflicht, dies zu erfühlen und sich danach zu richten. (Beispiel: Als Goethe p. m. [post mortem] gefragt wurde, wie man seine Werke interpretieren solle, sagte er: «Aus meinem Geiste

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heraus, aber nicht mit meinen selben Worten, die ich sprach, mich erklären.» – Saint-Martin p. m. sagte einmal: «Ich habe viele Schüler; sie haben aber meist meine Irrtümer weiterverbreitet. ») Auch die Verstandes- oder Gemütsseele kann in sich etwas wie einen zweiten Menschen tragen, und zwar, wenn der Mensch eine persönlich erkannte Wahrheit als allgemeingültig hinstellen will. Der Mensch tut dies aus einem gewissen Schamgefühl heraus, weil er nicht sagen will: «Diese Wahrheit habe ich als solche durch dies oder jenes Erlebnis erkannt; es ist daher für mich eine Wahrheit», sondern er möchte sie als allgemeingültig hinstellen. Hierfür hat der Okkultismus die Bezeichnung «Pharisäer». Der innere Pharisäer ist die Verstandesseele, die die Herrschaft nach dieser Richtung an sich reißt. Aus dieser Sucht, persönliche Wahrheiten als allgemeine hinzustellen, resultiert dann oft nach außen hin Heuchelei und Unaufrichtigkeit. Die Empfindungsseele kann man in seinem Streben nach Wahrheit ebenfalls zu sehr vorherrschen lassen. Das tun alle die, welche lieber in Gefühlen schwelgen, als zum Beispiel die Weltentwicklungslehren in sich aufzunehmen und verarbeiten zu wollen, die zum Beispiel lieber sich in einen Tauler oder einen anderen Mystiker des Mittelalters vertiefen und alles übrige ablehnen. Da die Empfindungsseele von der Bewußtseinsseele ziemlich entfernt ist, so bringt sie ihre Fehler nicht in so unangenehmer Weise zum Ausdruck wie diese, aber doch ist es ein Fehler, wenn der Esoteriker sich von allem, was ihn die äußere Welt lehren kann, abwendet, um nur in der inneren Versenkung die Wahrheit zu suchen. Man nennt im Okkultismus diese Art, die Empfindungsseele überwiegen zu lassen, den «inneren Essäer ». Man kann nun die Einwendung machen: «Ja, ein Essäer ist doch etwas sehr Gutes.» Gewiß ist er das; aber die geistigen Führer, welche diesen Orden gründeten, wußten eben, an welchem Orte, zu welcher Zeit und in welcher Art sie ihn einrichten mußten, damit er für die Welt etwas Heilsames war. Das ist

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eben die Hauptsache im okkulten Streben, zu erkennen, welche Wahrheit die richtige für die betreffende Zeit ist. Das hat der Buddha damals genau gewußt, als er sechshundert Jahre vor Christus seine Lehre nach Indien brachte. Dieselbe Lehre an einen anderen Ort verpflanzt, zu anderer Zeit, hat nicht die gleiche Wirkung. Wie etwas wirksam zu machen ist, darauf kommt es an. Es formen sich Knotenpunkte zu gewissen Zeiten in den geistigen Welten, wo aus den höchsten Welten in die direkt über uns liegenden Welten Kräfte hineinwirken. Eine solche Zeit ist jetzt da, und diese Kräfte aus den höchsten Welten herabholen, können nicht die großen Initiierten, das kann nur der Christus, dadurch, daß er das Mysterium von Golgatha durchgemacht hat. Aber die großen Initiierten Buddha, Pythagoras, Zarathustra und so weiter gruppieren sich um den Christus und lassen sich von seinen Kräften beeinflussen, gleichviel, ob sie im physischen Leib inkarniert sind oder in geistigen Welten weilen, und sie wirken aus diesem Geiste heraus. Wir sollen nun diese drei in uns wohnenden Menschen, den Sadduzäer, den Pharisäer und den Essäer, untereinander in ein Verhältnis bringen, denn jeder allein für sich ist etwas Schädliches. Der Pharisäer soll dem Sadduzäer dienen und diese beiden zusammen dem Essäer. Dieser soll über die zwei herrschen, aber allein für sich darf er nicht herrschen. Wir sollen als Esoteriker es wirklich ins Gefühl bekommen, daß wir diese drei in uns haben, denn wenn wir an den Hüter der Schwelle kommen, werden wir sie sehr deutlich spüren; denn wir werden sie zurücklassen müssen als etwas Vergängliches, was nicht in die geistigen Welten gehört. Wenn man sagt, ein Essäer beschäftige sich ja gerade mit den geistigen Welten, so muß geantwortet werden, daß er sich mit ihnen in seiner ihm angemessenen Art in der physischen Welt beschäftigt, aber daß eben sein ganzer Orden für die physische Welt und für einen bestimmten Punkt der Erde gegründet wurde und daß in den geistigen Welten von anderen Gesichtspunkten ausgegangen wird.

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Wenn wir mit diesen drei Mängeln, die wir als Blößen empfinden, vor die Gottheit hintreten, so werden wir ein Gefühl der Scham haben, wie es Adam und Eva in ihrer Blöße vor der Gottheit hatten, und deshalb müssen wir trachten, diese drei Seeleneigenschaften in das richtige Gleichgewicht zu bringen. Die geistige Welt ist für uns von Hüllen umgeben, die wir selber schaffen und die wir lösen müssen. Aber nicht durch Suchen in sich findet man die Erkenntnis. Sie kann einem kommen, wenn beim ruhigen Meer die Sonne in dieses sinkt und wir diese Naturerscheinung intensiv auf uns wirken lassen. Das richtige Leben mit der Natur wirkt erweckend und fördernd auf den Esoteriker; aber er darf ihm auch nicht ausschließlich sich hingeben.