Denn eines erfuhren die alten Eingeweihten mit voller Bewusstheit: sie wussten, Weisheit ist nicht bloß etwas abstrakt im Menschen Lebendes, Weisheit ist Licht im Menschen, indem der Mensch denkt, sich innerlich Bilder macht. Denn dasselbe, was da im Menschen innerlich die Bilder sind, das ist äußerlich das Licht, das belebt. Unsere Begriffe können kein Licht schaffen – so etwa sagten sich diese Eingeweihten -, daher haben sie selber die Form des Todes in Anspruch genommen, daher sind sie tot, unsere Begriffe. Und das war die tragische Weisheit eines großen Teiles der Mysterien des vierten nachatlantischen Zeitraumes, dass der Satz gefühlt wurde: Die Weisheit des Menschen kann nicht mehr Licht sein, sie wird dunkel im Menschen; denn Licht ist schaffend. Der abstrakte Gedanke ist unschöpferisch, ist tot.
Und nun stellen Sie sich einen solchen Eingeweihten vor, der ganz in dieser Anschauung stehend erzogen ist: es kann erst wiederum einen Trost für den Menschen geben, wenn aus irgendeiner Ecke heraus die Überzeugung kommt: die Weisheit kann wieder leuchten, die Weisheit kann wiederum Licht werden, sie ist nicht tot, sie ist etwas, was man draußen auch sehen kann. Sie kann Licht werden. Sehen Sie, dieser Trost ist Paulus geworden, als er das Ereignis von Damaskus erlebte. Da hatte er erst das Mysterium von Golgatha begriffen. Da hat er erst verstanden: durch Christus ist etwas in die Welt gekommen, was nicht nur gedacht werden kann, was leuchtet, was wiederum Lichtkraft, also schaffende Kraft hat. Und von da an hat er gewusst: zwar die Natur ist für den Menschen erstorben, aber der Christus ist mit seiner Kraft auf der Erde. Er hat sie durchdrungen. Und in dem Christus kann jetzt die Menschheit dasjenige finden, was sie früher in der Natur gefunden hat. Das war das große Erlebnis des Paulus vor Damaskus. Und da verstand er: die Menschen haben die Natur verloren als Trost, die Natur ist ihnen ästhetisch geworden. Aber der Christus tritt ein. Der Christus, richtig verstanden, gibt dasjenige, was da lebte in dem ganzen Komplex der sprechenden Mineralien, der zum Erröten und Erblassen bringenden Pflanzen, der innerlich den Menschen durchsehnenden, durchwühlenden Tierheit. Ein Geistkosmos hat sich mit der Erde verbunden. Die Sonnenkraft, die früher in Mineral, Pflanze und Tier dem Menschen erschien, sie ist da auf moralische Art. Sie ist da für das innerliche Erleben. Das Himmelreich ist nahe herangekommen. Was reden die Menschen alle über die Interpretation dessen, dass der Christus verkündet hat: Das Erdenende ist da, ein neues Reich kommt auf. – Ja, die es so verstanden haben, dass nunmehr die Ähren fünfmal so reich werden auf den Feldern, dass die Trauben fünfmal so groß werden an den Weinstöcken – wir wissen ja, dass das so verstanden worden ist -, die verstehen eben nicht, was da gemeint war; dass tatsächlich eine Durchtränkung des rein natürlichen Daseins mit dem gekommen war, was in dem Herabsenken des Christus auf die Erde liegt. Das hat der Paulus geoffenbart bekommen mit dem Ereignis von Damaskus.
Und so müssen wir eben diese zweite Welt sehen, eine zweite, ganz neue Welt ist gekommen mit dem Christus. Es ist nicht bloß dieses Abstraktum, als das man es häufig ansieht, sondern es ist eine ganz neue Welt, eine Welt, die wiederum dasjenige gibt, wenn es richtig verstanden wird, was früher die Natur gegeben hat. Der Intellektualismus lacht, wenn man davon spricht, dass in den Mineralien Gnomen sind, was aber nichts anderes zum Ausdruck bringen soll als das, was ich vorhin gesagt habe: Die Mineralien sprachen zu einem -, oder dass Undinen in den Pflanzen sind. Menschen, die nicht mehr erblassen können, nicht mehr erröten können beim Anblick der Pflanzen, die können natürlich auch von den Undinen nichts wissen; denn die Verstandesbegriffe, die Definitionen, die sagen nichts von den Undinen. Aber das Erröten und Erblassen, das, was im Blute liegt, das spricht davon, sprach einmal davon. Heute spricht es nur unbewusst davon. Aber all das vermag wieder aufzuleben, wenn der Christus wirklich als ein Erlebnis bei der Menschheit eintritt. Und im Christus wird sich das Alter wiederum mit der Jugend verständigen können. Denn der Christus, der kann nicht mit dem Verstande erfasst werden.
Sehen Sie, wie wir heute die Welt verstandesmäßig beurteilen, reden wir von richtig und unrichtig, von wahr und falsch. Aber das hat nur für die physische Welt, in der wir zwischen Geburt und Tod leben, Bedeutung. Die Leute, zu denen man reden muss über die höheren Welten, die wollen nicht eingehen auf das, was das Wesentliche ist. Gewiss, man muss die Begriffe von wahr und falsch, von logisch richtig und unrichtig auch in die höheren Welten hinauftragen. Aber das ist nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist, dass da etwas Lebendiges dazu kommen muss, dass da die Begriffe «gesund» und «krank» zum Beispiel eintreten müssen. Hier für die physische Welt ist etwas eben richtig oder unrichtig, für die höheren Welten ist das Richtige außerdem gesund. Wir empfinden es so lebendig, wie wir hier das Gesundsein am ganzen Menschen empfinden in der physischen Welt. Und das Falsche, das Unrichtige ist dort das Kranke, und wir reden eigentlich besser, wenn wir in der gewöhnlichen Welt die Dinge wirklich treffen wollen, von gesund und krank, als wenn wir von richtig oder unrichtig reden, und wir müssen uns auch aneignen etwas von der Anschauung nach dem Gesunden oder Kranken. Hier urteilen wir logisch nach richtig oder unrichtig, in den höheren Welten empfinden wir: da wächst etwas, es entwickelt sich. Wir reden nicht vom bloßen Richtigen, wir empfinden das als gesund. Und wenn wir einen Begriff darüber fassen, so fühlen wir auch diesen Begriff als etwas Gesundes, nicht bloß als etwas Richtiges. Und ebenso fühlen wir das, was unrichtig ist, in der geistigen Welt als krank. Nun, für die physische Welt reichen wir heute eben aus – wir sind einmal so veranlagt – mit richtig oder unrichtig. Für die Geschichte ist das nicht der Fall. Für die Geschichte kommen wir eben mit dem nicht aus, was die neueren Historiker nach dem Muster der bloßen Physik an Begriffen entwickelt haben. Da müssen wir sprechen von einer Gesundheit am Ausgangspunkte der Menschheit. Wir müssen in der griechisch-lateinischen Zeit sprechen von einer Erkrankung der Kultur. Und wir müssen von der Therapie der Geschichte sprechen, indem wir die Wirksamkeit des Mysteriums von Golgatha entwickeln. Wir müssen also sprechen, wie wir von dem gesunden und kranken Menschen sprechen, wir müssen die Geschichte nach dem Musterbilde einer Erkrankung und einer Heilung darstellen.
Rudolf Steiner in der GA 209, S. 101 f.