Warum muss denn in der Gegenwart eine ganz andere Art als die materialistische es ist, nämlich eine rein geistige Art, wirklich die Menschenherzen ergreifen? Diese Frage müssen wir im Zusammenhang betrachten mit einer Tatsache, auf die wir öfter hingewiesen haben im Laufe der Jahre, und die uns gerade besonders in diesen Tagen, in diesen Leidens- und Prüfungstagen nahegehen muss. Wir haben hingewiesen darauf, wie dieses zwanzigste Jahrhundert die Anschauung des ätherischen Christus unter die Menschheit bringen muss. Und so wahr, wir haben das oft gesagt, als zur Zeit des Mysteriums von Golgatha der Christus physisch unter den Menschen gewandelt hat an einer bestimmten Stätte der Erde, so wahr wird über die ganze Erde hin im zwanzigsten Jahrhundert der ätherische Christus unter den Menschen wandeln. Und nicht darf, wenn gegen der Erde Heil nicht gesündigt werden soll, die Menschheit unaufmerksam an diesem Ereignis vorbeigehen; sondern sie muss die notwendige Aufmerksamkeit haben, damit eine genügende Anzahl von Menschen vorbereitet sein werden, den Christus wirklich zu schauen, der da kommen wird und der geschaut werden muss.

Solch ein Ereignis, es kommt nicht ganz plötzlich, wie das Ereignis von Golgatha auch nicht plötzlich gekommen ist, sondern sich auch durch dreiunddreißig Jahre vorbereitet hat. Und so nah ist der Zeitpunkt, wo etwas, aber jetzt geistig, geschehen wird, was eine ähnliche Bedeutung haben wird für die Menschheit wie das Ereignis von Golgatha auf dem physischen Plan. Daher werden Sie es nicht unglaubhaft finden, wenn Sie im Allgemeinen die oben berührte Tatsache zugeben, wenn gesagt wird, dass er eigentlich in der Form, in der er geschaut werden wird im großen Augenblick der Entwickelung im zwanzigsten Jahrhundert, schon da ist, dass sich vorbereitet der große Augenblick. Nicht unglaubhaft werden Sie es finden, wenn eben im Angesicht des großen Augenblickes gesagt wird: Dieser Augenblick bereitet sich schon vor. Ja, man kann sagen: So weit die Menschheit in ihren heutigen Taten entfernt zu sein scheint von dem Durchtränktsein mit dem Christus-Geist auf dem physischen Plan, so nahe ist den Seelen, wenn sie sich nur öffnen wollten, der Christus, der da kommt. Und der Okkultist kann geradezu darauf hindeuten, wie seit dem Jahre 1909 ungefähr in deutlich vernehmbarer Weise sich vorbereitet dasjenige, was da kommen soll; dass wir seit dem Jahre 1909 innerlich in einer ganz besonderen Zeit leben. Und es ist heute möglich, wenn es nur gesucht wird, dem Christus ganz nahe zu sein, den Christus in ganz anderer Art zu finden, als ihn frühere Zeiten gefunden haben.

Eines kann einem auffallen, was ich Ihnen, so einfach es klingen mag, sagen muss aus einer tiefen Zeitempfindung heraus. Leider macht man sich ja gewöhnlich nicht genug gründliche Vorstellungen über dasjenige, was vergangen ist, namentlich was vorgegangen ist mit den menschlichen Seelen in früheren Jahrhunderten. Von der Stärke des Eindrucks, den in den ersten christlichen Jahrhunderten, wenn auch auf einen geringeren Kreis als später, vielleicht nicht die heute bekannten Evangelien, aber dasjenige, was in den heute bekannten Evangelien steht, gemacht hat, von dem unendlich Starken des innerlichen Ergriffenseins der Seele macht man sich heute keine rechte Vorstellung mehr. Ja, mit den zunehmenden Jahrhunderten wurde wirklich der Eindruck, den das Innerliche der Evangelien machte, immer geringer. Und heute darf man schon sagen, wenn man sich keinen Illusionen hingibt: Der einzelne, wenn er gewisse Intuitionen hat, gewisse ahnende Kräfte hat, kann durchdringen durch das Wort der Evangelien zu einer Vorstellung desjenigen, was geschehen ist in der Zeit des Mysteriums von Golgatha; aber die ungeheure Kraft des Evangelien-Wortes selber, sie wurde geringer und immer geringer, und sie wirkt heute, wenn man sich eben keiner Illusion hingibt, in den weitesten Kreisen der Menschen nur noch schwach. Man will sich solch eine Tatsache nicht mehr gestehen; aber es wäre gut, weil es die Wahrheit ist, wenn man es sich gestehen wollte. Wie kommt das?

Nun, so wahr es ist, dass dasjenige, was durch die Evangelien pulst, nicht Erdenwort ist, sondern Kosmos-Wort, Himmels-Wort, eine unvergleichlich größere innere Kraftmöglichkeit hat als irgendetwas anderes auf der Erde, ebenso wahr ist es, dass der Form, in der dieses Wort niedergelegt ist in den Evangelien, aus der Zeit des Mysteriums von Golgatha heraus, die Menschen in ihren Seelen sich entfremdet haben in dieser Zeit. Denken Sie doch nur nach darüber, wie unendlich schwer es Ihnen ist, die Sprache, wenn sie zufällig an Sie herankommt, in einem Zustand zu verstehen, wie sie vor vier, fünf Jahrhunderten war. Ein Herüberübersetzen gibt ja durchaus nicht dasjenige, was wirklich da ist. Die Evangelien in der Gestalt, in der sie heute ein Mensch haben kann, sind eben nicht die ursprünglichen Evangelien, haben nicht die ursprüngliche Kraft. Man kann zu ihnen durchdringen durch eine gewisse Intuition, wie ich sagte; aber sie haben eben nicht dieselbe Kraft. Und der Christus, der hat das Wort gesprochen, das zutiefst in die Menschenseele sich eingraben soll: Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Erdenzeit. – Dies ist eine Wahrheit, dies ist eine Wirklichkeit. In verschiedener Form, in einer der Menschenseele besonders nahen Form, wird er es sein in der angedeuteten Zeit des zwanzigsten Jahrhunderts.

Nun, aus dem, was ich gesagt habe, können Sie entnehmen, dass derjenige, der sich in diesen Dingen als Okkultist drinnenstehend fühlt, sagt: Er ist da! So ist er da, dass wir von ihm deutlich wissen, dass er nun mehr noch will mit seinen Menschenkindern, als er in verflossenen Jahrhunderten gewollt hat. Die Evangelien haben bisher innerlich zu den Menschen gesprochen. Sie sollten die Seelen ergreifen. Daher konnte man auch mit dem Glauben sich begnügen, nicht zum Wissen fortschreiten. Diese Zeit ist vorüber, diese Zeit liegt hinter uns. Der Christus hat noch ganz anderes vor mit seinen Menschenkindern. Er hat das vor, dass das Reich, von dem er gesagt hat «Mein Reich ist nicht von dieser Welt», wirklich in diejenigen Teile der Menschenwesenheit einziehe, die selber nicht von dieser Welt sind, die von einer anderen Welt sind. Denn in jedem von uns liegt der Teil des Menschen, der nicht von dieser Welt ist. Und der Teil des Menschen, der nicht von dieser Welt ist, der muss in intensiver Weise gerade suchen das Reich, von dem der Christus gesagt hat, es sei nicht von dieser Welt.

In der Zeit, in der dies verstanden werden muss, leben wir. Und manche solcher Dinge in der Menschheitsentwickelung künden sich gerade an durch den tiefsten Kontrast. Und auch in unserer Zeit kündigt sich ein Großes, Bedeutsames durch den Kontrast an. Denn die Zeit wird kommen mit dem kommenden Christus, mit dem daseienden Christus, wo die Menschen lernen werden, nicht nur für ihre Seelen, sondern für das, was sie begründen wollen durch ihr unsterbliches Teil hier auf Erden, den Christus zu befragen. Der Christus ist nicht nur ein Menschen-Herrscher, er ist ein Menschen-Bruder, der befragt werden will, besonders in den kommenden Zeiten befragt werden will für alle Einzelheiten des Lebens. Was die Menschen begründen wollen, durch den Kontrast wird es begründet heute. Heute scheinen sich Ereignisse zu vollziehen, bei denen die Menschen am allerfernsten zu stehen scheinen der Frage an den Christus. Wer fragt bei demjenigen – so müssen wir uns fragen -, was heute geschieht: Was sagt der Christus Jesus dazu? – Wer fragt es? Manche sagen, dass sie es fragen, aber es wäre gotteslästerlich, zu glauben, dass sie es fragen, dass in der Form, wie sie heute gestellt werden, die Fragen wirklich an den Christus gestellt werden. Und dennoch, die Zeit muss kommen, sie darf nicht ferne sein, wo die Menschenseele in ihrem unsterblichen Teil für dasjenige, was sie begründen will, die Frage an den Christus stellt: Soll es geschehen, soll es nicht geschehen? – wo die Menschenseele den Christus als sie liebenden Genossen im Einzelfalle des Lebens neben sich sieht und nicht nur Trost, nicht nur Kraft bekommt von der Christus-Wesenheit, sondern auch Auskunft bekommt über dasjenige, was geschehen soll. Das Reich des Christus Jesus ist nicht von dieser Welt, aber es muss wirken in dieser Welt, und die Menschenseelen müssen die Werkzeuge des Reiches werden, das nicht von dieser Welt ist. Von diesem Standpunkte aus müssen wir Umschau halten danach, wie wenig heute die Frage aufgeworfen wird, die an den Christus für die einzelnen Taten und Ereignisse gestellt werden muss. Lernen aber muss die Menschheit, den Christus zu befragen.

Wie soll das geschehen? Das kann nur dadurch geschehen, dass wir seine Sprache lernen. Derjenige, der den tieferen Sinn dessen, was unsere Geisteswissenschaft will, einsieht, der sieht in ihr nicht bloß ein theoretisches Wissen über allerlei Menschheitsprobleme, über die Glieder der Menschennatur, über Reinkarnation und Karma, sondern er sucht in ihr eine ganz besondere Sprache, eine Art und Weise, sich über geistige Dinge auszudrücken. Und dass wir lernen, durch die Geisteswissenschaft innerlich im Gedanken mit der geistigen Welt zu sprechen, das ist viel wichtiger, als dass wir uns theoretische Gedanken aneignen. Denn der Christus ist bei uns alle Tage bis ans Ende der Erdenzeiten. Seine Sprache sollen wir lernen. Und durch die Sprache – und scheint sie noch so abstrakt zu sein -, durch die wir von Saturn, Sonne, Mond und Erde und auf der Erde von verschiedenen Perioden und verschiedenen Zeiten und von verschiedenen anderen Geheimnissen der Entwickelung hören, durch diese sogenannte Lehre lehren wir uns selber eine Sprache, in die wir die Fragen gießen können, die wir stellen an die geistige Welt. Und wenn wir lernen, so recht in der Sprache dieses geistigen Lebens innerlich zu sprechen, dann, meine lieben Freunde, dann wird sich entwickeln, dass der Christus neben uns steht und uns Antwort gibt. Das ist etwas, das wir als eine Gesinnung aus unseren geisteswissenschaftlichen Bestrebungen aufnehmen sollen, als eine Empfindung, als ein Gefühl. Warum befassen wir uns mit Geisteswissenschaft? Es ist, wie wenn wir das Vokabularium derjenigen Sprache lernen sollen, durch die wir an den Christus herankommen. Und wer sich bemüht, über die Welt denken zu lernen, wie sich die Geisteswissenschaft bemüht, wer sich bemüht, seinen Kopf so anzustrengen, dass er, so wie die Geisteswissenschaft es will, in die Weltengeheimnisse hineinsieht, an den wird aus dem düster-dunklen Grunde der Weltengeheimnisse die Gestalt des Christus Jesus herantreten und ihm die starke Kraft sein, in der er leben wird, brüderlich führend an seiner Seite stehend, auf dass er mit Herz und Seele stark und kräftig sein könne, den Aufgaben der zukünftigen Menschheitsentwickelung gewachsen zu sein. Suchen wir daher nicht bloß als Lehre, suchen wir als eine Sprache uns die Geisteswissenschaft anzueignen, und warten wir dann, bis wir in dieser Sprache die Fragen finden, die wir an den Christus stellen dürfen. Er wird antworten, ja er wird antworten! Und reichliche Seelenkräfte, Seelenstärkungen, Seelenimpulse wird derjenige davontragen, der aus grauer Geistestiefe heraus, die in der Menschheitsentwickelung dieser Zeit liegt, die Anweisung des Christus vernehmen wird, die dieser dem, der sie sucht, geben will in der allernächsten Zukunft.

Rudolf Steiner am 06.02.1917 in der GA 175 („Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha“), S. 29 ff.