Esoterische Stunde in Basel am 22. September 1912 durch Rudolf Steiner.
Aufzeichnung Paula Hübbe-Schleiden.

Wir haben in der vorgestrigen Stunde an dem Beispiel der spielenden Kinder gesehen, wie sich der esoterische Schüler verhält zu dem exoterischen Leben, wenn er aus ihm heraus sich auf den esoterischen Pfad begeben hat, wie er jetzt, wenn er wieder mitspielt die kindlichen Spiele, noch besser spielen kann als die Kinder selbst, aus dem Grunde, weil er sich nicht, wie die Kinder es tun, mit dem Spielzeug in Verbindung bringt, sondern in Beziehung bringt zu den Kindern selbst. Auf das Spielzeug kommt es nicht an, sondern auf die Beziehung zu den Kindern kommt es an, auf seine Seelenverfassung. So ist es auch auf dem esoterischen Weg. Da tritt der Schüler in andere Beziehung zu seiner Umwelt. Da schaut er sie mit anderen Augen an als früher. Er ist in gewisser Beziehung darüber hinausgewachsen, und doch versteht er sie besser. Wir sollen nicht interesselos werden für die Dinge der äußeren Welt. Durch die esoterische Schulung tritt von selbst nach und nach ein, dass man das Interesse
für das verliert, was einen früher interessiert hat.

Der Mensch, wie er im Leben steht, ist dem einen Menschen mehr zugetan als dem andern. Da ist er dann selbstverständlich geneigt, die Fehler dessen, dem er zugetan ist, entweder gar nicht zu bemerken, oder sie viel leichter zu entschuldigen, als bei demjenigen, dem er antipathisch gegenübersteht. Diese Stimmung muss bei dem Esoteriker auch umgewandelt werden. Das Verhältnis zu seinen Mitmenschen muss ein mehr unpersönliches werden. Nicht von heute auf morgen soll das erfolgen; es würde sogar nicht recht sein; es würden dadurch karmische Zusammenhänge zerrissen werden können. Aber ganz allmählich muss er dazu gelangen, auch denjenigen helfen zu wollen, die ihm nicht sympathisch sind. Dadurch kommt der Mensch freilich dazu, die Fehler der Menschen – auch derjenigen, die er liebt – schärfer hervortreten zu sehen als früher, aber das schadet nichts, das gleicht sich durch die esoterische Schulung wieder aus.

Unsere Seelenverfassung wird wirklich eine andere. Wir müssen heute noch näher eingehen auf das, was uns passiert in den Augenblicken, wo wir unsere Meditationen ausklingen lassen. Es ist nicht einerlei, ob dieses Hereinspielen der geistigen Welt gleich nach der Meditation oder erst später im Tagesleben auftritt, ebenso auch, ob dies eine Folge der Meditation ist, oder ob es nur ein sogenanntes atavistisches Hellsehen oder Hellhören oder Vorspiegelung von Visionen ist.

Für unser Seelenleben ist es am wertvollsten, wenn diese Übergänge nur ganz flüchtig hineinspielen und leicht vergessen werden. Hauptsache für den Esoteriker ist das Aufmerken, das Sich-Schulen, auf dieses flüchtige Aufblitzen der geistigen Welt achten zu lernen. Unser Denken wird durch die Esoterik ein feineres, geistigeres, unabhängigeres vom Gehirn. Führen wir uns einmal vor Augen, wie bei dem menschlichen Empfinden die Begriffe von Zeit und Raum eine Rolle spielen. Zeit und Raum sind aber im Geistigen Maja. Bei einem esoterischen Schüler kann der Moment eintreten, dass er mitten im exoterischen Leben plötzlich das Gefühl hat, dass nicht er es ist, der in diesem Augenblick denkt, sondern dass er gleichsam seinen Gedankenleib wahrnimmt, wie in ihm webend und wirkend die Gedanken. Er wird intensiv die Empfindung haben: es denkt (fühlt, will) etwas in mir. Dieses Weben und Wirken der Gedanken ist immer vorhanden, aber im Unterbewusstsein, und nur in ganz besonderen Momenten tritt es ins Bewusstsein. Immer feiner, geistiger, unabhängiger vom physischen Gehirn muss dieses Denken werden; immer mehr muss die Empfindung erwachen, dass in uns etwas Geistiges denkt, fühlt und will. Nun könnte jemand fragen: Ist das nicht ein Widerspruch, wenn einmal gesagt wird, wir wollen alles empfangen mit vollem Bewusstsein, und dann heißt es, im Unterbewusstsein arbeiten die Gedanken, das Ich? Solche Fragen sind eine Nachwirkung des jetzigen brutalen logischen Denkens – nicht nur brutal den Menschen gegenüber, sondern auch brutal dem Denken selbst gegenüber. Der Esoteriker aber muss lernen, fein und subtil zu denken, er muss sich bewusst werden, dass im Esoterischen alles eine Umwandlung erfährt.

Im Sinnesleben ist sich der Mensch seiner drei seelischen Kräfte bewusst – Fühlen, Denken, Wollen -, durch die die Seele arbeitet: Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewußtseinsseele. Beim Hineingehen in die höheren Welten verschwimmen diese drei Seelenglieder gleichsam ineinander; und doch sind sie getrennt. Auch hier scheint ein Widerspruch zu sein. Man muss aber wissen, dass die drei Seelenglieder überhaupt niemals ganz getrennt sind, obgleich ein jedes für sich zu bestehen scheint. Was der Mensch hat an Begierden, Trieben, Leidenschaften, das alles wogt und wallt in der Empfindungsseele. Nun aber musste der Mensch eines haben als entgegenwirkenden Pol für seine Egoität. Das haben die früheren führenden Mächte der Menschheitsevolution erkannt, und deshalb haben sie hineingelegt in des Menschen Empfindungsseele die Furcht. Es ist darauf hingewiesen in dem Mysterienspiel «Der Hüter der Schwelle». Die Furcht musste der Mensch haben, sonst wäre er herangetreten an alles, um es für sich zu haben; und seine Egoität wäre zu stark geworden. Auch die alten Pädagogen waren sich dessen klar bewusst, und das Erzählen von Märchen und Gespenstergeschichten bildete mit einen Faktor in ihrer Erziehung. In der modernen Pädagogik ist ganz ausgeschaltet, den Kindern Gespenstergeschichten zu erzählen. Bis zu einem gewissen Grade ist dieses aber für die Kindesseele notwendig, und zwar so weit, als in der Seele Staunen hervorgerufen wird, weil sich daraus Ehrfurcht vor etwas Unbekanntem entwickelt. Ein Kind, dem nie von etwas Unbekanntem, Großem erzählt wird, kann nie Andacht empfinden in seinem späteren Leben. Die Furcht muss der Esoteriker bewusst umwandeln in Ehrerbietung, Frömmigkeit, Hingabe, Aufopferungsfähigkeit. Beim Hineingehen in die geistigen Welten muss die Furcht in Ehrfurcht umgewandelt werden; deshalb ist es gut, sie auf dem physischen Plan zu pflegen. Wird aber das Gefühl der Furcht im Menschen übertrieben und ist das Ich nicht stark genug, um zu verhindern, dass nicht nur die Seele davon ergriffen wird, sondern auch der Leib, der physische Körper, so kann zum Beispiel entstehen das, was wir als Tollwut kennen. – Diese ist immer auf ein schwaches Ich zurückzuführen. – So wie in Verbindung der Furcht mit dem schwachen Ich leibliche Kräfte davon ergriffen werden, so fürchten die davon Befallenen alles Unzusammenhängende, wie zum Beispiel Wasser (Wasserscheu), etwas, was in dem Element des Wassers an sie herantritt. Es ist dies ein falsches Einwirken der geistigen Kräfte auf die Seele und die Leiblichkeit.

Für die Verstandesseele ist die Grundbedingung die Klugheit, die so oft durchkreuzt wird von dem Mitgefühl. Es ist eigentümlich, dass gerade in der Verstandesseele diese zwei Pole sich gegenüberstehen. Wie oft wird der Intellekt durch das Mitgefühl durchkreuzt und beeinflusst. Ein Sich-Hineinversetzen in andere Wesenheiten, das Mitempfinden von Leid und Freude, als wenn es unser eigenstes wäre, ist etwas, was durch bewusste Meditationen erreicht werden soll. Wir müssen zu der Empfindung kommen, als wären wir alle nur eine Einheit, und wir müssen fühlen lernen, dass Zeit und Raum etwas Getrenntes wird, wie schon im Anfang gesagt ist. An einem Beispiel können wir uns das klarmachen.

Eine Mutter wird die Schmerzen ihres Kindes ganz anders empfinden, wenn sie es noch auf ihrem Schoße trägt, ebenso anders, wenn es zwei bis drei Jahre alt ist, und noch anders sich dazu stellen, wenn das Kind zwanzig Jahre alt ist. Ebenso ist das Fühlen dem eigenen Kinde gegenüber anders als dem fremden gegenüber. Eine Mutter wird überhaupt anders empfinden, weil sie mit dem Kinde verbunden ist, eine Einheit ist, ebenso wie wir ein Stück der Einheit der geistigen Welten sind. Und man sieht auch, dass die Maja durch Zeit und Raum verschieden wird und sich auch dadurch das seelische Mitempfinden verändert.

Es wird sich oft herausstellen, dass wir öfter bei solchem Mitempfinden eine ungeheure Seligkeit in uns verspüren. Doch sollen wir uns nicht dieser Stimmung hingeben. Dieses soll nur das vorherrschende Gefühl sein, wenn wir leibfrei sein werden, also nicht empfinden im physischen Leibe, sondern in der Meditation, und dann die ungeheure Seligkeit genießen, schöpferisch mitzuarbeiten an der Welt.

Dieses Seligfühlen erzeugt die größte Egoität; deshalb ist sie nur durch die Meditation förderlich. Wir sollen in unserem physischen Dasein alles das, was uns vom Schicksal auferlegt ist, mit Gelassenheit ertragen und die Empfindung lernen, als ginge einen selbst dieses alles gar nichts an, sondern so ruhig und gelassen hinnehmen, als wäre unser Körper uns selbst fremd. Ebenso müssen wir auch in uns das Gefühl erwecken, nicht dass wir dazu ausersehen sind, Fortschritte zu machen, sondern uns auch ebenso freuen können über die Fortschritte anderer wie über unsere eigenen. Für die Weltentwicklung ist es ganz einerlei, wer die Fortschritte macht, aber für uns ist die Bekämpfung, die Umwandlung des Egoismus der wesentliche Faktor.

Das Gefühl des Sich-selbst-ausschalten-Könnens ist der eine Pol der Bewußtseinsseele. Der Gegenpol aber, der hineinragt aus der geistigen Welt, ist das Gewissen. Dieses hält uns jetzt zurück, wenn wir Handlungen begehen wollen, die nicht übereinstimmen mit den moralischen Gesetzen. Wir müssen uns lenken und leiten lassen von unserem Gewissen und nicht nach den Prinzipien des großen Staatsmannes handeln, von dem man sagt, dass er, obgleich er sich anscheinend von seinen Pferden führen ließ, diese Pferde doch lenkte, wie er wollte, und ihnen die Richtung gab.

Wir müssen auf dem physischen Plan achtgeben, damit wir das Gewissen in der richtigen Weise ausbilden, denn nur das, was man sich erworben hat, kann man mitnehmen in die geistigen Welten. Aber das Gewissen ändert sich auch durch unsere Meditationen. Es gibt eine Stufe, und diese ist die schwerste Stufe für den Okkultisten: das «Gewissenlos-Werden». Da muss aber der Mensch schon weit vorgeschritten sein und alles aus seiner Seele herausgeräumt haben; Eitelkeit und Ehrgeiz, diese allerschlimmsten Seelenkräfte, die den Menschen immer und immer wieder zu Fall bringen können, die muss er vollständig
umgewandelt haben.

«Gewissenlos» sein ist nur ein sich ganz leibfrei fühlen im Sinne der höheren Selbsterkenntnis, um sich nur dann als ein Zentrum fühlen zu können für das Aufnehmen der Wahrheiten aus der geistigen Welt. Wir müssen lernen, ein Doppelleben zu führen, die Empfindung haben, dass wir unseren physischen Körper wie ein Stück Holz mit uns herumtragen. Der Esoteriker muss fühlen lernen, dass sein ganzer Körper ein Organ für
das Denken, Fühlen, Wollen ist.

Er muss dazu gelangen, nicht nur mit seinem physischen Gehirn, das von der harten Hirnschale umspannt ist, zu denken, sondern mit allen Teilen seines Körpers, und dass seine Hände zum Beispiel bessere Organe zum Denken sind als sein Gehirn. Er muss nach und nach das Physische so vergeistigen, dass alles für ihn nur Werkzeug wird. Er muss so werden, dass (er) die Hände, besonders die Ätherhände, wenn er sie anschaut, gar nicht sieht, ebenso wie er jetzt (weder) sein Gehirn noch seine Augen sieht.

Beispiel: die Axt in der Hand. So wie wir die Axt empfinden als etwas Äußeres, so muss die Hand auch als etwas Äußeres von uns empfunden werden, was nicht zu uns gehört. Wir müssen der treibende Faktor sein, der die Hand leitet als Werkzeug, mit dem wir arbeiten. (Die Hand muss der treibende Faktor sein, mit dem wir arbeiten, muss das treibende Geistige sein und alles Einheit werden.)

In uns müssen wir alles über das Körperliche hinausarbeiten und uns so geistig spiritualisieren, dass wir unserem Urbilde gleich werden.

Im Geiste lag der Keim meines Leibes …

GA 266b, S. 433 ff.