Mit dem Christentum war eine Erdenreligion entwickelt, welche als geistiges Element so für die Erde ist, wie die Sonne als physisches Element für die Erde ist. Das Klima von der Gegend in der Nähe von Olympia ist verschieden von dem Klima in der Nähe von Theben, das Klima in der Nähe von Theben ist verschieden von dem Klima in der Nähe von Bombay. Wenn sich das religiöse Bekenntnis an die Lokalität anschmiegt, dann reicht es auch nicht über die Lokalität hinaus. Aber die Sonne verbreitet ihr Licht über alle Lokalitäten der Erde, scheint allen Menschen als die gleiche Sonne.

So war, als derjenige Gott Menschengestalt angenommen hatte, der seinen physischen Abglanz in der Sonne hat, dem Menschengeschlechte doch ein Gott gegeben, der für alle Menschen der ganzen Erde als Gott gelten kann. Man muss nur die Möglichkeit finden, in das Wesen dieses Christus-Gottes einzudringen, dann wird man ihn darstellen können als den Gott, der für die ganze Erdenmenschheit gilt. Wir sind in der anthroposophischen Lehre erst im Anfange. Wir stammeln gewissermaßen heute erst Anthroposophie. Aber Anthroposophie wird sich immer weiter und weiter entwickeln, und ein Teil ihrer Entwickelung wird darinnen bestehen, dass sie Worte über die Darstellung des Mysteriums von Golgatha finden wird, mit denen sie zu den Hindus, zu den Chinesen, in alle Gebiete der Erde gehen kann, und das Mysterium von Golgatha so verständlich machen können wird, dass der Hindu, der Chinese, der Japaner nicht mehr dasjenige zurückweisen werden, was ihnen über das Mysterium von Golgatha gesagt wird.

Dazu ist aber allerdings notwendig, dass dasjenige, was christliche Tradition ist, in vollem Sinne ernst genommen werde. Durch die Jahrhunderte hindurch band man sich mehr oder weniger an das Evangeliumwort. Man studierte die alten Bücher und man studierte auch so, wie man sie verstand. Hier soll gewiss nichts gegen die Gültigkeit der Evangelien gesagt werden. Wir haben in unseren Zyklen über jedes der Evangelien eine besondere anthroposophische Interpretation, wo versucht wird, in den Sinn, in den tieferen Sinn der Evangelien einzudringen. Aber dennoch muss gesagt werden: Warum wird denn gewöhnlich das Wort am Ende des einen Evangeliums so wenig ernst genommen, das da heißt: «Ich hätte euch noch viel zu sagen, allein ihr könnet es jetzt noch nicht verstehen»? Und warum wird denn das andere Wort des Evangeliums so wenig ernst genommen: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Erdenzeiten»? Denn der Christus hat wahr gesprochen. Er hatte den Menschen nicht nur dasjenige zu sagen, was in den Evangelien aufgezeichnet ist. In den Evangelien ist vom Christus-Wort dasjenige aufgezeichnet, wofür die Menschen der damaligen Zeit, einzelne Menschen wenigstens reif waren. Aber reifer und immer reifer musste die Menschheit in der Erdenentwickelung werden. Der Christus blieb vom Mysterium von Golgatha an als der lebendige Christus, nicht als der tote Christus unter den Menschen. Und er ist da. Lernen wir seine Sprache kennen, dann werden wir auch wissen können, dass er da ist, dass sein Wort wahr ist: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Erdenzeiten.» Und seine Sprache, seine Geistsprache möchte sprechen gerade anthroposophische Weltanschauung. Anthroposophische Weltanschauung möchte über die Natur, möchte über ein jegliches Wesen der Erde, möchte über den Sternenhimmel und die Sonne so sprechen, dass in dieser Sprache auch das Mysterium von Golgatha verständlich und der Christus als der immerwährend Daseiende empfunden werden kann.

Wir dürfen auch dasjenige, was wir aus der geistigen Welt mit Hilfe derjenigen Macht, die durch das Mysterium von Golgatha vom Himmel auf die Erde herabgestiegen ist, gewinnen, nach dem Mysterium von Golgatha als das Wort Christi ansehen. Wir dürfen das Wort des Paulus wahrmachen: «Nicht ich, sondern der Christus in mir.» Ja, der Christus in mir als Mensch, wenn wir als Menschen sprechen von den geistigen Welten. Denn heute sind wir bereits in ein Zeitalter eingetreten, wo wir nicht einmal mehr wie die Griechen uns noch mit unserem physischen Leib eins fühlen, aber diesen physischen Leib deutlich als einen harmonisch selbständigen fühlen. Heute dringen wir noch früher als im Griechenzeitalter in die Untergründe unseres physischen Leibes hinein, trennen uns dadurch von dem Spirituellen unserer Umgebung, können uns nur vertiefen, wenn wir die Verbindung mit dem Gotte suchen, der aus den Himmeln zu den Menschen herabgestiegen ist, können uns nur mit dem Gotte, der den Erdenort betreten hat, verbunden fühlen, weil die Menschen nicht mehr in ihrem physischen Dasein mit ihrem gewöhnlichen Bewusstsein den Himmelsort unmittelbar betreten können. Wenn wir den Christus finden, das heißt, wenn wir uns eröffnen die geistige Welt, dann finden wir auch wiederum den Zugang zu der übersinnlichen Welt, aber jetzt nicht durch den physischen Leib, wie das in alten Zeiten der Fall war, sondern durch die erhöhte Kraft der Seele. Und diese bekommen wir jetzt, wo der Parallelismus zwischen der leiblichen und seelischen Entwickelung in die Zwanzigerjahre nur hinaufgeht – später wird er noch weniger weit hinaufgehen -, dadurch, dass wir uns mit der Erkenntnis eines übersinnlichen Ereignisses durchdringen, nämlich des Mysteriums von Golgatha mitten unter sinnlichen Ereignissen der Erdenentwickelung. Alles ging auf Erden sinnlich zu. Nur im Mysterium von Golgatha mischte sich unter die Erdenereignisse ein Übersinnliches. Das kann nur durch eine übersinnliche Erkenntnis auch begriffen werden. So bekommen wir als Menschen in der Seele durch unsere Verbindung mit dem Christus die starke Kraft, ein Verhältnis zu der übersinnlichen Welt zu gewinnen, was die Menschen früher dadurch gewannen, dass sie noch mit ihrem physischen Leibe so verbunden waren, dass der Leib ihnen schalenartig werden konnte, dass sie noch vor dem physischen Tode das Herannahen dieses Todes verspürten und dadurch zusammenwuchsen mit dem Geiste, der in der Umgebung enthalten ist.

Wir müssen seelisch das erreichen, was auf eine mehr durch den Leib vermittelte Art in den älteren Zeiten erreicht worden ist. Wenn wir auch noch so sehr bewundern dasjenige, was übrigens nicht aus der urindischen Zeit auf uns gekommen ist, sondern was später geblieben ist aus dieser urindischen Zeit in der Herrlichkeit der Veden, der Großartigkeit der Vedantaphilosophie, in dem Glanzvollen der Bhagavad Gita, so müssen wir wissen, das konnte in jenen alten Zeiten nur dadurch errungen werden, dass der Mensch in dieser Weise, indem er ins Alter hineinwuchs, von seinem Leibe etwas Spirituelles in sich zurückgestrahlt bekam.

Der Mensch wurde sozusagen in jenen älteren Zeiten, in denen vom fünfunddreißigsten Jahre das Leben abwärts geht, entschädigt für dieses Abwärtsgehen des Leibes dadurch, dass gewissermaßen aus dem härter werdenden Leib, aus dem vertrocknet werdenden, runzelig werdenden Leib der Geist sich herauspresste, den der Mensch wahrnahm. Man dichtete die großen philosophischen Dichtungen der alten Zeiten nicht als Jüngling, man dichtete als weise gewordener alter Patriarch. Aber es war dieses das Ergebnis desjenigen, was man vom Leibe hatte. Wir müssen in diesem anders gewordenen Zeitalter der Menschheitsentwickelung dasjenige, was in alten Zeiten die Menschen von dem Leibe hatten, von der stärker gewordenen Seele haben. Unser Leib wird alt. Wir bleiben mit ihm verbunden. Wir lassen den Geist nicht aus ihm herauskommen, weil wir diesen Leib frühzeitig in Anspruch nehmen.

Würden wir das nicht tun, würden wir nicht freie Menschen geworden sein. Wir müssen das als unser rechtmäßiges Erdenschicksal hinnehmen. Aber wir müssen uns auch klar sein, unsere Seele muss darum umso stärker werden. Dasjenige, was uns gewissermaßen an geistiger Stärke, die dem schwachgewordenen Leibe in alten Zeiten entsprochen hat, nicht mehr zufließt, das müssen wir durch die eigene Verstärkung unserer Seele erwerben. Und diese Verstärkung unserer Seele ergibt sich, wenn wir wirklich in lebendigem Anschauen auf das große, gewaltige, auf das Himmelsereignis hinblicken, das mitten im Irdischen mit dem Mysterium von Golgatha geschehen ist. Im Anblicke des Mysteriums von Golgatha und im Bewusstsein, dass die Nachwirkung des Mysteriums von Golgatha auch unter uns lebt, im Geistig-Übersinnlichen da ist, im Anblicke dieses Ereignisses stärkt sich unser Seelisch-Geistiges, und wir kommen wiederum an die geistige Welt heran.

Ja, der Christus ist auf die Erde heruntergestiegen, damit die Menschen ihn auf der Erde schauen konnten, als sie ihn im Himmel nicht mehr erinnernd schauen konnten. Das ist es, was eigentlich uns das Mysterium von Golgatha von dem heutigen Gesichtspunkte aus erst recht vor das geistige Auge rückt.

GA 226, S. 92 ff.