RUDOLF STEINER
Geisteswissenschaftliche Menschenkunde
GA 107
Erster Vortrag – Berlin – 19. Oktober 1908
Die astralische Welt
Seite 21-23
Jetzt werde ich eine Sache berühren, die zwar für die heutige materialistische Zeit schockierend ist, die aber doch wahr ist. Wir haben oft betont, daß unsere Zeit sich ja heute immer mehr einlebt in das bloße Bewußtsein der physischen Welt, also auch in die Charaktereigenschaften und Charaktereigentümlichkeiten der physischen Welt; wo also, wenn die Diskussion angeschlagen wird, jeder den andern, der nicht seiner Meinung ist, vernichten möchte oder ihn für einen Toren hält. So ist es in der astralischen Welt nicht. Da wird ein Wesen sagen: Ich kümmere mich nicht um andere Meinungen! – Da herrscht absoluteste Toleranz. Ist eine Meinung die fruchtbarere, so wird sie die andern aus dem Felde schlagen. Man läßt die andern Meinungen ebenso bestehen wie die eigene, weil sich die Dinge schon zurecht richten müssen durch den Kampf. Wer sich nach und nach in die spirituelle Welt einlebt, muß sich nach den Gewohnheiten der spirituellen Welt richten lernen; und der erste Teil der spirituellen Welt ist einmal die astralische Welt, wo solche Usancen herrschen, wie sie eben charakterisiert wurden, so daß in einem Menschen, der sich einlebt in die geistige Welt, in einer gewissen Beziehung auch die Gewohnheiten der Wesen der geistigen Welt Platz greifen müssen. Und das ist auch richtig. Immer mehr soll unsere physische Welt ein Abbild der geistigen Welt werden, und wir werden dadurch in unsere Welt immer mehr Harmonie bringen, daß wir uns eines vornehmen: das Leben in der physischen Welt soll sich abspielen wie das Leben in der astralischen Welt. Wir können zwar nicht an einem Orte zwei Kirchen bauen, aber wo die Meinungen verschieden sind, läßt man sie sich gegenseitig in bezug auf ihre Fruchtbarkeit in der Welt durchdringen. Die Meinungen, welche die fruchtbarsten sind, werden schon den Sieg davontragen, wie das auch in der astralischen Welt ist. So können innerhalb einer spirituellen Weltenströmung die Charaktereigentümlichkeiten der astralischen Welt geradezu hineinreichen in die physische Welt. Das wird ein großes Feld der Erziehung sein, welches die geisteswissenschaftliche Bewegung zu bebauen haben wird: immer mehr auf dem physischen Plan ein Abbild zu schaffen der astralischen Welt. So sehr es den Menschen schockiert, der nur den physischen Plan kennt und sich danach nur vorstellen kann, daß nur eine Meinung vertreten werden könne und daß alle, die andere Meinungen haben, Dummköpfe sein müssen, so wird es doch immer mehr und mehr selbstverständlich sein für die Angehörigen einer spirituellen Weltanschauung, daß eine absolute innerliche Toleranz der Meinungen herrscht, eine Toleranz, die sich nicht darstellt wie die Konsequenz einer Predigt, sondern wie etwas, was in unserer Seele Platz greifen wird, weil wir uns immer mehr und mehr naturgemäß die Usancen der höheren Welten aneignen. Was jetzt geschildert worden ist, diese Durchdringlichkeit, ist eine sehr wichtige und wesentliche Eigentümlichkeit der astralischen Welt. Kein Wesen der astralischen Welt wird einen solchen Wahrheitsbegriff entwickeln, wie wir ihn auf der physischen Welt kennen. Die Wesen der astralischen Welt finden das, was im Physischen Diskussion und so weiter ist, ganz unfruchtbar. Für sie gilt auch der Ausspruch Goethes: «Was fruchtbar ist, allein ist wahr!» Die Wahrheit muß man nicht durch theoretische Erwägungen kennenlernen, sondern durch ihre Fruchtbarkeit, durch die Art, wie sie sich geltend machen kann. Es wird also ein Wesen der astralischen Welt mit einem andern Wesen niemals streiten, wie die Menschen es tun, sondern ein solches Wesen wird zu dem andern sagen: Schön, tu du das Deine, ich tue das Meine. Es wird sich schon herausstellen, welches die fruchtbarere Idee ist, welche Idee die andern aus dem Felde schlagen wird. Wenn wir uns in eine solche Denkweise hineinversetzen, haben wir auch schon an praktischem Wissen etwas gewonnen. Man darf nicht glauben, daß die Entwickelung des Menschen in die geistige Welt hinein sich in tumultuarischer Weise vollzieht, denn sie geschieht innerlich, in intimer Weise. Und können wir darauf achtgeben und uns so etwas aneignen, was jetzt als Eigentümlichkeit der astralischen Welt charakterisiert wurde, dann werden wir immer mehr dahin kommen, solche Gefühle, wie die astralen Wesen sie haben, als Mustergefühle für unsere eigenen zu betrachten. Wenn wir uns nach dem Charakter der astralischen Welt richten, können wir hoffen, uns hinaufzuleben zu den geistigen Wesenheiten, deren Leben uns auf diese Weise immer mehr und mehr aufgeht. Das ist es, was sich dabei als das Fruchtbare für die Menschen erweist.