Wir müssen zunächst eine Unterscheidung machen. Wir müssen das eine betrachten, was sich in einer objektiven Gerechtigkeit im Karma vollzieht. Da müssen wir uns ganz klar darüber sein, daß der Mensch allerdings seinem Karma unterworfen ist, daß er dasjenige, was er als Unrecht getan hat, karmisch auszugleichen hat. Und bei tieferem Nachdenken wird der Mensch eigentlich nicht anders wollen, als daß es so sei. Denn nehmen Sie an, irgend jemand habe ein Unrecht getan. In dem Augenblick, wo er dieses Unrecht tun konnte, ist er unvollkommener, als wenn er es nicht getan hatte, und er kann den Grad von Vollkommenheit, den er hatte, bevor er das Unrecht tat, erst wiedererringen, wenn er das Unrecht ausgleicht. Er muß also wünschen, das Unrecht auszugleichen, denn nur indem man es ausgleicht, indem man den Ausgleich erarbeitet, schafft man sich den Grad von Vollkommenheit, den man vorher hatte, bevor man die Tat vollbracht hat. So können wir um unserer eigenen Vervollkommnung willen gar nichts anderes wünschen, als daß das Karma als objektive Gerechtigkeit bestehe. Es kann also im Grunde genommen vor der Auffassung der menschlichen Freiheit gar nicht der Wunsch entstehen, es solle uns irgendwelche Sünde vergeben werden etwa in dem Sinne, daß wir zum Beispiel heute einem Menschen die Augen ausstechen und uns dann diese Sünde vergeben wird, wir dann diese Sünde in unserem Karma nicht mehr abzutragen brauchen. Ein Mensch, der einem anderen die Augen aussticht, ist unvollkommener als ein Mensch, der es nicht getan hat, und im weiteren Karma muß das eintreten, daß er eine entsprechende Guttat dafür tut; dann erst ist er wiederum in sich der Mensch, der er war, bevor er die Tat vollbracht hat. Also es kann im Grunde genommen gar nicht der Gedanke aufkommen, wenn man wirklich über das Wesen des Menschen nachdenkt, daß, wenn man einem Menschen die Augen aussticht, einem das vergeben wird und daß dann das Karma etwa ausgeglichen wäre. So hat es mit dem Karma durchaus seine Richtigkeit, daß uns gewissermaßen kein Heller nachgelassen wird, daß wir alles bezahlen müssen. Aber es gibt ja noch etwas anderes gegenüber der Schuld. Die Schuld, die wir auf uns laden, dit Sünde, dit wir auf uns laden, die ist ja nicht bloß unsere Tatsache, das müssen wir jetzt unterscheiden, sondern sie ist eine objektive Weltentatsache, sie ist etwas auch für die Welt. Dasjenige, was wir verbrochen haben, das gleichen wir in unserm Karma aus; aber daß wir einem die Augen ausgestochen haben, das ist geschehen, das hat sich wirklich vollzogen, und wenn wir, sagen wir, in der jetzigen Inkarnation einem Menschen die Augen ausstechen und dann in der nächsten Inkarnation etwas tun, was dieses ausgleicht, so bleibt das doch für den objektiven Weltengang bestehen, daß wir vor soundsoviel Jahrhunderten einem die Augen ausgestochen haben. Das ist eine objektive Tatsache im Weltenganzen. Für uns gleichen wir sie später aus. Den Makel, den wir uns selbst zugefügt haben, gleichen wir im Karma aus, aber die objektive Weltentatsache, die bleibt bestehen, die können wir nicht auslöschen dadurch, daß wir von uns selbst die Unvollkommenheit nehmen. Wir müssen unterscheiden die Folgen einer Sünde für uns selbst, und die Folgen einer Sünde für den objektiven Weltengang. Das ist außerordentlich wichtig, daß wir diese Unterscheidung machen. Und nun darf ich vielleicht eine okkulte Betrachtung einfügen, welche die Sache etwas verständlicher machen kann. Wenn man anblickt die Zeit der Menschheitsentwickelung seit dem Mysterium von Golgatha, und man kommt, ohne durchdrungen zu sein mit der Christus-Wesenheit, an die Akasha-Chronik heran, so wird man sehr leicht irre – sehr leicht wird man irre. Denn in dieser Akasha-Chronik zeigen sich Aufzeichnungen, die sehr häufig nicht stimmen mit dem, was man in der karmischen Evolution der einzelnen Menschen findet. Ich meine das Folgende: Nehmen wir an, im Jahre 733 meinetwillen habe irgendein Mensch gelebt und habe dazumal eine schwere Schuld auf sich geladen. Nun untersucht man die Akasha-Chronik, zunächst ohne daß man irgend etwas von einer Verbindung hat mit dem Christus. Und siehe da, man kann die betreffende Schuld nicht finden in der Akasha-Chronik. Geht man aber jetzt auf den Menschen ein, der weiter gelebt hat, und untersucht sein Karma, dann findet man: Ja, auf dieses Menschen Karma ist noch etwas, was er abzutragen hat; das müßte an einem bestimmten Zeitpunkt in der Akasha-Chronik darinnen stehen; es steht aber nicht darinnen. Wenn man das Karma untersucht, sieht man: Ja, er hat es abzutragen, man müßte in jener Inkarnation die Schuld in der Akasha- Chronik finden, sie steht aber nicht darinnen. Welch ein Widerspruch! Eine ganz objektive Tatsache, die in zahlreichen Fallen sich ergeben kann. Ich kann heute einem Menschen begegnen. Wenn es mir durch Gnade gegeben wird, etwas zu wissen über sein Karma, so kann ich vielleicht finden, daß irgendein Unglück oder ein Schicksalsschlag, der ihn trifft, auf seinem Karma steht, daß es der Ausgleich ist für eine frühere Schuld. Gehe ich der Sache nach in frühere Inkarnationen und prüfe, was er dazumal gemacht hat, so sehe ich in der Akasha- Chronik diese Tatsache nicht verzeichnet. Woher kommt denn das? Das kommt davon her, daß der Christus tatsächlich auf sich genommen hat die objektive Schuld. In dem Augenblick, wo ich mich mit dem Christus durchdringe, wo ich mit dem Christus die Akasha- Chronik durchforsche, finde ich die Tatsache! Christus hat sie in sein Reich genommen und trägt sie als Wesenheit weiter, so daß, wenn ich von Christus absehe, ich sie nicht finden kann in der Akasha- Chronik. Man muß sich diesen Unterschied merken: Es bleibt bestehen die karmische Gerechtigkeit, aber in bezug auf die Wirkungen einer Schuld in der geistigen Welt tritt der Christus ein, der diese Schuld in sein Reich hinübernimmt und weiterträgt. Der Christus ist derjenige, der in der Lage ist, weil er einem anderen Reiche angehört, unsere Schulden und unsere Sünden in der Welt zu tilgen, sie auf sich zu nehmen. Wie sagt dann also im Grunde genommen der Christus am Kreuze.

Christus und die menschliche Seele

Über den Sinn des Lebens
Theosophische Moral

Anthroposophie und Christentum 

1912/1914

GA 155 – Seite 182ff.