Wissenschaft & Geisteswissenschaft

Geisteswissenschaft will Wissenschaft sein. Wissenschaft führt immer weg von der menschlichen Individualität, wenn sie auch gerade verständlich macht auf sittlichem und sozialem Gebiete das Individuelle, wenn sie auch da gerade anregt die Quellen der individuellen Impulse. Aber als Wissenschaft selbst, als Erkenntnis, macht sie den Menschen selbstlos, führt weg von der Individualität, führt in dasjenige, was umfassend, universell ist. Jedoch der Mensch braucht zu seinem vollen Menschtum stets, daß er zum Übersinnlichen ein unmittelbar individuelles Verhältnis habe, ein Verhältnis, das er unmittelbar subjektiv ausleben kann. Der Mensch braucht nicht nur den Zusammenhang mit der übersinnlichen Welt, so wie die Wissenschaft, die Geist-Wissenschaft ihn bieten kann, der Mensch braucht den Zusammenhang durch Kultus, Sakramentales und so weiter mit den Religionsstiftern und all der realen, äußeren sinnenfälligen Entwickelung durch die Jahrzehnte und Jahrhunderte hindurch, die sich an die Religionsstifter und an die äußeren Offenbarungen anhängen. Geisteswissenschaft wird dasjenige, was da lebt, im äußeren Kultus, was lebt in den äußeren Bekenntnisformen, Geisteswissenschaft wird es geistig vertiefen, wird zeigen, wie das sich übersinnlich in der Sinnenwelt Offenbarende sich ausnimmt, wenn man es mit der übersinnlichen Erkenntnis durchdringt. Geisteswissenschaft wird so den Menschen in wahrhaft modernem Sinne vorbereiten, religiöse Bedürfnisse zu haben. Aber diese religiösen Bedürfnisse können nicht anders befriedigt werden, als indem man hinschaut auf die alten Religionen. Es war merkwürdigerweise ein katholischer Kardinal, Newman, der bei seiner Antrittsrede in Rom (als frisch eingekleideter Kardinal) das Wort ausgesprochen hat, das sonderbare Wort, er sehe für die katholische Kirche kein anderes Heil als eine neue Offenbarung. – Der katholische Kardinal zeigte damit bloß, daß er die seitherige Stellung des Menschen zu der alten Offenbarung nicht einnehmen kann, denn er verkündete gerade das, was durch die Geisteswissenschaft heraufkommen soll. Geisteswissenschaft weiß, daß die Begründung von Religionen etwas ist, was ganz bestimmten Zeitaltern angehört, die hinter uns liegen, daß im Christentum sich zusammengefaßt hat synthetisch dasjenige, was in den übrigen Religionen verteilt war, daß das Christentum als religiöse Form in gewissem Sinne der Abschluß der religiösen Formen ist, daß man nicht im Sinne des Kardinals Newman auf eine neue Offenbarung zu warten hat, sondern daß man nur lichtvoller diejenige Offenbarung in neuerem Sinne, in höherem Sinne umgestaltet verstehen kann, die im Christentum als Religion unter anderen religiösen Offenbarungen aufgetreten ist Denn worauf es ankommt in der Menschheitsentwickelung, das ist, daß die Art und Weise, sich zur religiösen Offenbarung zu stellen, mit der Zeit sich ändert, daß neue innere Grundlagen geschaffen werden müssen. Diese neuen inneren Grundlagen werden gerade für den heutigen Menschen und seine Forderungen, die allerdings für viele noch unbewußt bleiben, gerade durch die Geisteswissenschaft geschaffen. Und diejenigen, die sich aus der offiziellen Vertreterschaft dieses oder jenes Religionsbekenntnisses heraus fürchten oder wenigstens angeben, sich zu fürchten, daß Geisteswissenschaft die Menschen irreligiös machen könnte, die sollten sich vor allen Dingen einmal fragen, ob sie nicht viel mehr beitragen zur Irreligiosität der Menschen als diese Geisteswissenschaft, die im Gegenteil die Menschen gerade im rechten, wahren Sinne wiederum zum religiösen Leben zurückführen wird. Derjenige, der dieses religiöse Leben als Kirchenbekenntnis auf einer bestimmten Stufe zurückhalten will, der nicht will, daß hereindrängt das, was aus der neuen Seelenlage der Menschen notwendigerweise hereindrängen muß, der ist viel mehr ein Gegner der Religion, auch wenn er im Priesterkleide auftritt, als derjenige, der sich fragt: Wie kann der Mensch bei seinem vertieften Inneren auch jenen Zug wiederum in seiner Seele entwickeln der ihn zum Verständnis des religiösen Lebens hinführt? – Geisteswissenschaft ist keine Religionsstiftung; sie ist Wissenschaft vom übersinnlichen Leben. Aber indem sie dieses ist, führt sie den Menschen auch zur Vertiefung derjenigen Instinkte, die gerade das religiöse Leben, das zurückgegangen ist unter der bloßen äußeren Naturerkenntnis, die gerade dieses religiöse Leben in den verschiedensten Formen wiederum in der Menschheit lebendig und fruchtbar machen wird.

GA 72, Seite 411ff