Leiden ist eine Begleiterscheinung der höheren Entwickelung. Es ist das,
was man nicht entbehren kann zur Erkenntnis. Der Mensch wird sich einst
sagen: Was mir die Welt an Freude gibt, dafür bin ich dankbar. Wenn ich
aber vor die Wahl gestellt werde, ob ich meine Freuden oder meine
Leiden behalten will, so werde ich die Leiden behalten wollen; ich kann
sie nicht entbehren zur Erkenntnis. Jedes Leiden stellt sich nach einer
gewissen Zeit so dar, daß man es nicht entbehren kann,
denn wir haben es als etwas in der Entwickelung Enthaltenes
aufzufassen. Es gibt keine Entwickelung ohne Leiden. Dadurch, daß der
Mensch die Egoität überwindet, kommt er über die Stimmung des Bedrückt-
und Gelähmtseins hinweg. In diesem Phänomen kann man etwas sehen, was
gut ist: Kraft aus der Unzulänglichkeit. Gott sei Dank, daß ich durch
eine unzulängliche Tat, das heißt deren Mißerfolg, ermutigt werde,
weiter zu handeln! Das Menschenstreben ist kein unbestimmtes Glückslos.
Unerlöst bleibt nur der, dessen freier Wille sich abwendet von der
Bestimmung des Menschenwesens. In der Synthese des Weltenprozesses ist
das Leid ein Faktor.
GA 110, Seite 182f